Ymirs Rolle. Gisela Schaefer

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Ymirs Rolle - Gisela Schaefer

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versperrte jede Sicht auf das Land dahinter. Erik sah, wie Ymir die Stirn runzelte und sagte deshalb zu ihm: „Diesen Nebenfluss hat Gunnars Vater vor Jahren entdeckt und auch den Stützpunkt gegründet. Wart’s nur ab!“

       Eine ganze Weile fuhren sie weiter, bis der Fluss in einen See mündete, umgeben von dichtem Strauchwerk und Binsen. Hinter einer Landzunge, den Blicken zunächst verborgen, glitten sie in eine Bucht und auf einen Holzsteg zu, an dessen Pfählen zwei Drachenboote befestigt waren. Zwei weitere lagen auf dem kiesigen Uferstreifen.

       Ein langgezogenes Signal ertönte und kurz darauf erschien ein Mann, der ihnen heftig gestikulierend ihre Anlegestellen zuwies. Kaum hatten sie den Landesteg hinter sich gelassen, lichtete sich das Dickicht und gab den Blick frei auf eine weite, flache Landschaft und die durch einen Palisadenzaun und davorliegendem Graben geschützte Siedlung.

       Als sie am Abend an der Feuerstelle des Gemeinschaftshauses saßen und alle Grüße aus der Heimat überbracht und alle Nachrichten ausgetauscht waren, sagte Björn, der Dorfvorsteher: „Übermorgen werden wir aufbrechen mit zwei von unseren Schiffen und zwei von euren. Mit viel Glück finden wir ein Gehöft, das noch nicht aufgegeben wurde. Diejenigen, die im Herbst zurück nach Norwegen fahren, müssen Gunnar die Nachricht bringen, dass das Land hier weit und breit leer und verlassen ist. Er wird nicht gerade erfreut sein, aber hier ist nichts mehr zu rauben. Sagt ihm, dass wir die Siedlung halten wollen, aber als Viehzüchter und Ackerbauern.“

       Björn machte eine kleine Pause, nahm einen kräftigen Schluck Bier und fuhr dann fort: „Vor vier Tagen hatten wir einen gewaltigen Sturm, einige Häuser und zwei Boote sind stark beschädigt worden. Ich brauche ein paar Männer, die zum Schutz der Frauen und Kinder hier bleiben und gleichzeitig die Schäden beheben. Es ist nicht zufällig einer unter euch, der was von Holzarbeiten versteht? Seit Hakon, unser Schiffbauer, gestorben ist, tun wir uns schwer.“

       Ymir kratzte sich das Kinn und meldete sich zögerlich, wusste er doch nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Auf der einen Seite war er ganz froh, nicht am Raubzug teilnehmen zu müssen, er verabscheute die Greueltaten, die oft damit verbunden waren. Auf der anderen Seite erwarteten Embla und Gunnar ganz sicher wenigstens eine kleine Heldentat von ihm. Um Häuser und Schiffe zu reparieren hätte er diese lange Fahrt wirklich nicht unternehmen müssen, das konnte er auch zuhause.

      „Ich bin Schiffbauer,“ sagte er.

      „Das ist das beste, was uns passieren konnte,“ Björn war hocherfreut „dann übernimmst du die Verantwortung für alle Reparaturen, und fang beim Zaun an, den hat’s ordentlich erwischt. Wenn du mit allem fertig bist, kannst du uns ein zusätzliches Schiff bauen, wer weiß, wann wir wieder einen Schiffbauer unter uns haben.“

       Dann bestimmte er einige weitere Männer, die sich nur murrend und widerwillig seinem Befehl fügten, bei Frauen und Kindern daheim zu bleiben, während die anderen in den Kampf zogen.

       Am übernächsten Tag fuhren sie mit vier Schiffen stromaufwärts. Ymir sah sich etwas gründlicher im Dorf um: 38 Häuser standen zu beiden Seiten einer Straße, die mitten durch die Ansiedlung führte. Jedes Haus hatte seinen eigenen Gemüse- und Kräutergarten auf der Rückseite, und auch ein Stück Wiese für Hühner und Enten. Es gab ein Langhaus für die Männer, die sich nur zeitweise bei ihnen aufhielten oder noch keine Familie gegründet hatten, das Gemeinschaftshaus für Versammlungen, Ställe für Pferde, Schweine, Schafe und Ziegen, ein Backhaus aus Natursteinen erbaut, einen rund gemauerten Brunnen und außerhalb des Dorfes die Begräbnisstätte, die mit großen Steinbrocken markiert war, deren Anordnung den Umriss eines Schiffes erkennen ließ.

       Nachdem Ymir alle Schäden festgestellt hatte, ritt er mit zwei Helfern in den nahegelegenen Wald, wo sie das notwendige Holz schlugen, entfernten die Äste und ließen die Stämme von den Pferden ins Dorf und zum Fluss an Ymirs zukünftigen Schiffsbauplatz ziehen. Als sie an einem Steinbruch vorbeikamen, entdeckte Ymir an dessen Rand eine kräftig gewachsene Baumart, die er nie zuvor gesehen hatte.

      „Auf keinen Fall,“ warnten die Männer erschrocken, als sie sahen, dass er Anstalten machte, den Baum zu fällen, „Björn würde das nie erlauben, er trägt Früchte, die im Herbst reif werden. Lass dir von seiner Frau Inga welche vom letzten Jahr geben, falls du sie nicht kennst..“

      „Früchte vom letzten Jahr? Wie schafft sie es, sie so lange frisch zu halten?“ fragte Ymir erstaunt.

       Die Männer lachten lauthals: „Nicht nötig, mit ihnen irgendwas zu machen … aber wenn du sie essen willst, mußt du starke Zähne haben.“

       Natürlich war Ymir jetzt richtig neugierig geworden und ging gleich zu Inga. Sie holte eine Schüssel hervor, die angefüllt war mit kleinen, verschrumpelt aussehenden Kugeln.

      „Probier sie!“ forderte sie ihn auf.

       Als er sie unschlüssig in der Hand drehte, sagte sie: „Wenn dir deine Zähne lieb sind, versuch nicht , sie damit zu knacken. Leg sie auf den Tisch und hau mit der Faust drauf. Nur was drin steckt, kann man essen. Die Einheimischen nennen sie Walnüsse. Leider gibt es hier in der Umgebung nur diesen einen Baum am Steinbruch. Vor Jahren stand ein zweiter daneben, aber der ist irgendwann abgestorben. Sieh dir die Schüssel an,“ Inga kippte die Nüsse in einen Eimer, „und diese Löffel hier, das ist alles aus dem Wurzelholz des Walnussbaumes. Mein Vater Hakon war Schiffbauer und Schnitzer. Was sagst du dazu?“

       Es war das schönste an Wurzelholz, was Ymir je gesehen hatte. Diese schwungvollen Maserungen, diese wolkigen Muster und Linien, die feinen Grau- und Brauntöne. Er strich bewundernd über die weiche, glattgeschmirgelte Oberfläche.

      „Wenn du irgendwo einen abgestorbenen oder kranken Walnussbaum entdecken solltest, was ich nicht glaube, denn wir haben schon alle danach gesucht, dann grab die Wurzel aus. Du bekommst wertvolle Geschenke für alles, was du daraus schnitzt. Alle Frauen im Dorf möchten Schüsseln aus Walnussholz, sie beneiden mich um meine.“

       Ymir steckte die beiden mit einem feinen Häutchen umgebenen Hälften der Nuss in den Mund.

      „Hast du schonmal sowas köstliches gegessen?“ fragte Inga. „Dabei sind sie auch noch sehr nahrhaft, denn sie sind voller Fett. Und wie du siehst, kann man sie monatelang aufbewahren. Ich weiß nicht, warum der Walnussbaum so selten ist, vielleicht ist es ihm nicht warm genug in unserem Land. Jedenfalls haben wir mehrmals vergeblich versucht, Schößlinge anzupflanzen, sie sind alle eingegangen.“

       Vier Wochen waren vergangen, als Björn mit seiner Flotte wieder zurückkehrte. Einen einzigen Gutshof hatten sie gefunden und ihn abgebrannt bis auf die Grundmauern. Ein armseliges Dorf hatten sie links liegengelassen, mehr aus Hochmut denn aus Mitleid mit den entsetzten Bewohnern.

      „Die vom Gutshof haben uns frühzeitig kommen sehen und sind in die Wälder geflüchtet,“ Björn zuckte mit den Schultern, „es wäre sinnlos gewesen, sie zu verfolgen. Wir haben alles mitgenommen, was wir brauchen können.“

       Ymir starrte auf den Jungen, der gefesselt in einem der Boote lag. Etwa 12 Jahre alt mochte er sein, verdreckt, zerlumpt und spindeldürr. Björn folgte seinem Blick: „Eine von unseren Eroberungen,“ sagte er leichthin.

       Obwohl sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war, gab der Junge keinen Laut von sich.

      „Ist auf der Flucht gestürzt und hat sich wohl den Fuß verstaucht. In ein paar Tagen wird er wieder arbeiten

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