Ymirs Rolle. Gisela Schaefer
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„Sieht aus wie ein Schamanenstab,“ dachte er, „wenn ich Embla einen Spruch hineinbrenne, ist es ein Glücksbringer.“
Also zerbrach er sich Tag und Nacht den Kopf darüber, einen Reim zu finden, nicht zu lang, aber doch schon aussagekräftig. Schöne Worte machen war nicht gerade seine Stärke und so war das Beste, was ihm einfiel:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
Schätze turmhoch – all Unheil verbannt
Was er mit Schätzen meinte, würde Embla schon wissen: Viele Kinder, Gesundheit, Arbeit – denn das war Ymirs Vorstellung von Glück und er war sicher, dass sie die gleichen Träume hatte. Und weil er von seiner Dichtkunst ganz begeistert war, brannte er in das helle Oval von Ingas Schale einen ähnlichen Spruch:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
von Inga und Björn all Unheil verbannt.
Der Sommer war längst zu Ende und Aufbruchstimmung machte sich breit unter Gunnars Abgesandten. Auch Ymir wurde zusehends unruhiger, die letzten Monate waren zwar schnell vergangen durch all die vielen Arbeiten und Erlebnisse, aber auch er spürte, dass es an der Zeit war, zurückzukehren in den Fjord von Dragensfjell. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen und am letzten Abend vor ihrer Heimfahrt sollte das traditionelle Abschiedsfest stattfinden. Da Ymir seine Arbeiten am See beendet hatte, schlief er seit einigen Tagen wieder bei seinen Gefährten im Langhaus. Am Tag vor ihrer Abreise war es bereits morgens ungewöhnlich warm und der Himmel gelblich verfärbt. Björn schaute besorgt zum Himmel:
„Gefällt mir gar nicht, sieht nach einem Unwetter aus, warten wir mal, wie es sich bis Mittag entwickelt hat.“
Zu dieser Zeit hing es bereits ockergelb über ihnen, es schien zum Greifen nahe zu sein. Unter den Tieren brach eine nervöse Unruhe aus und Björn war klar, dass irgendwas im Anzug war. Er erteilte kurz und knapp seine Befehle, ließ alle Weidetiere in die Ställe bringen, und als am frühen Nachmittag heftige Windböen über sie fegten und eine braune Wand sich bedrohlich näherte, wusste er, dass es schlimm würde. Alle Türen wurden fest verschlossen, Felle vor die Fensteröffnungen gehängt, niemand hielt sich mehr im Freien auf.
„Großer Odin, steh uns bei!“ stöhnte jemand neben Ymir, als der Sturm sie erreicht hatte und mit einem merkwürdig prasselnden Geräusch das Langhaus schüttelte.
Ymir hockte zusammengekauert zwischen seinen Gefährten.
„Die Schiffe!“ durchfuhr es ihn. „Wenn der Sturm wirklich so heftig wird, müssen sie besser gesichert werden.“
Er dachte keinen Augenblick daran, jemanden um Hilfe zu bitten oder sein Vorhaben mitzuteilen. Kurzentschlossen zog er sich eine Decke über den Kopf, wickelte einen Strick um seinen Leib und ging hinaus. Das letzte, was er hörte, war ein Schrei: „Ymir, nein!“
Dann riss es ihm die Tür aus der Hand, sie schlug hinter ihm zu und Ymir wäre fast gestürzt. Einen kurzen Moment flaute der Wind ab und er fing sich wieder. Die Luft um ihn herum war gelb und braun und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er von Sand umgeben war. Es war kaum möglich zu atmen und er zog den Stoff seiner Decke über Nase und Mund.
Die nächste Windböe kam und er musste die Augen schließen und sich abwenden. Hin und her wurde er geworfen, stolperte hilflos mit weit vornüber gebeugtem Oberkörper durchs Dorf, über die Felder in Richtung Fluss. Der Sand wurde mit solcher Wucht gegen ihn geschleudert, dass er wie die rauhe Zunge eines Rindes über jedes Stückchen freiliegende Haut schürfte und sie wund rieb. Ymir versuchte, sich so gut es ging davor zu schützen, aber schon nach wenigen Sekunden hatte er Sand in den Augen, im Mund, in den Ohren, einfach überall, jeder Atemzug war ein Ringen gegen das Ersticken. Aber er kämpfte sich Schritt für Schritt weiter vor, bis er den Fluss erreichte, der etwas tiefer lag als das umliegende Land und das Dorf. Die Schiffe tanzten wie Korken auf dem Wasser und Ymir sah, dass die Stricke, mit denen sie befestigt waren, nicht mehr lange halten würden, weil sie an mehreren Stellen fast durchgescheuert waren.
„Ich muss sie in die Binsen ziehen, damit sie sich im Schlick festsetzen, sonst zerschlagen sie sich gegenseitig oder werden weggetrieben,“ dachte er und holte aus seiner Hütte, die nun als Lagerraum diente, einige neue Seile, nutzte die kurzen Pausen zwischen den Böen, stieg ins aufgewühlte Wasser, befestigte sie nacheinander an den Booten, suchte sich passende Bäume am Uferrand aus, wickelte die Stricke darum und zog mit aller Kraft die Schiffe in das Schilf, bis sie feststeckten. Als seine Handflächen aufgerissen waren und bluteten, schnitt er mit dem Messer Streifen von seiner Decke ab und wickelte sie darum.
„Odin, mach, dass die Bäume halten, mach, dass die Stricke halten, mach, dass der Sturm aufhört,“ betete er mehr als einmal, während er das letzte Seil knirschend um einen Stamm zog. Aber der Sturm tobte immer grausamer.
Ymir, der Bärenstarke, ließ sich zu Tode erschöpft an einem der Bäume auf die Erde sinken, er hatte alle Schiffe gesichert, aber nun verließen ihn die Kräfte, die Knie gaben nach unter ihm und Tränen liefen aus seinen entzündeten Augen. Den Rückweg ins Dorf würde er auf keinen Fall schaffen, mit einer letzten Willensanstrengung kroch und schob er sich zum nächstgelegenen Schiff, rollte sich über die Bordwand und unter die Ruderbänke, zog das Segeltuch über sich und verlor das Bewußtsein.
Björn war auf einen heftigen Sturm gefasst gewesen, aber eine solche Katastrophe, wie sie nun über sie hereinbrach, hatte er nicht erwartet und auch noch nie erlebt. Der Orkan zerstörte nicht nur alle Häuser und den Palisadenzaun einschließlich seinem Wachturm, die Unmassen an feinem, gelben Sand lagen nun in einer dicken Schicht über dem Land und über dem Dorf. In jede Ritze war er gedrungen, hatte ihr Saatgut, ihr Mehl, ihre ganze Ernte vernichtet, hatte die Ställe der Tiere zerschmettert, so dass viele von ihnen darunter begraben lagen. Aber das Schlimmste war, dass auch einige der Dorfbewohner, Männer, Frauen und Kinder, unter den Trümmern ihrer Häuser gefunden wurden, erstickt oder erdrückt, denn der Wind hatte mit unbarmherziger Gewalt Sand gegen sie gepeitscht und Lehmbrocken und Balken gegen sie geschleudert. In ihrer Not waren sie unter Felle und Decken gekrochen, die sie nicht schützen konnten.
So plötzlich, wie die Katastrophe über sie hereingebrochen war, so plötzlich endete sie. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte und durch die gelbe Staubschicht auf den Gesichtern der Menschen zogen sich dunkle Rinnsale, als ihnen Tränen des Entsetzens über die Wangen liefen. Man fand Ymir, mehr tot als Lebendig, kaum bei Bewußtsein, und trug ihn ins Dorf. Sie schleppten mühsam Wasser vom Fluss herbei, gaben den Verletzten zu trinken und verbanden ihre Wunden - viel mehr konnten sie nicht tun in diesen ersten Stunden. Sie wussten, dass ihr Dorf verloren war und dass sie schnell zu einer Entscheidung kommen mussten über ihre Zukunft. Als ihnen klar wurde, dass die Boote das einzige waren, was ihnen erhalten geblieben war, beschlossen die meisten von ihnen, zurück nach Norwegen zu ziehen. Es gab keine Alternative: Der Winter stand bevor, das Land war mit Sand bedeckt, das Dorf zerstört, alle Lebensmittel verdorben. Eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen entschied sich, mit den verbliebenen Pferden und Kühen im Land zu bleiben und solange umherzuziehen, bis sie eine Stelle finden würden, wohin der Sturm keinen Sand getragen hatte.
„Allein Ymir haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt von hier fort können,“