Schlussakt. Joana Goede

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Schlussakt - Joana Goede

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wie an Weihnachten, auch zweimal, ohne jemanden, der ihn begleitete. Natürlich erscheint uns das komisch. Er selbst wusste auch nicht recht, was ihn denn so oft zur Kirche zog, er wusste nur, dass dies der Ort war, an dem er sich am glücklichsten fühlte. Wodurch das kam, wusste wohl nur der Himmel. Dieser Junge war ich.

      Ich, Benvolio, war an diesem Weihnachten gerade siebzehn. Eigentlich genau in dem Alter, indem der Computer der beste Freund ist und die Schule einen nur noch ankotzt. Ich hatte keinen Computer und die Schule akzeptierte ich als etwas, das getan werden musste, so wie Wäsche waschen oder Staubsaugen. Sie störte mich nicht und anstrengen tat sie mich erst recht nicht. Was mich wirklich störte, war meine Pflegefamilie. Der Begriff Pflegefamilie war meiner Meinung nach in diesem Fall sowieso völlig fehl am Platze. Pflegen taten sie mich nun wirklich nicht. Eigentlich existierten sie sogar auf einer ganz anderen Ebene als ich, so dass sie mich natürlich unmöglich verstehen konnten. Ich war ihnen deshalb nicht böse, sie bemühten sich sicherlich, doch sie fanden keinen Zugang zu mir, so wenig, wie ich zu ihnen. Ich hatte mich nach außen verriegelt, so dass kein Fremdkörper eindringen konnte. Das war mein Schutz. Er schützte mich vor Unruhe und vor allem Modernen, das sich in mich einzuschleichen versuchte. Dieses Moderne hatte keinen Platz in meinem Leben. Ich war eben schon immer hoffnungslos altmodisch. Vielleicht hatte die Kirche es mir deshalb so sehr angetan. Das altertümliche Deutsch, in dem die Gebete verfasst waren, die Atmosphäre der alten Gemäuer und der kunstvoll geschnitzte Altar aus dem 18. Jahrhundert. Das alles faszinierte mich weit über den Gottesdienst hinaus. Doch warum das so war, wusste ich nicht. In der Schule wachte mein Geist zwischendurch einmal auf, meistens nur in der Latein- und in der Geschichtsstunde, manchmal aber auch sonst, sobald etwas für mich Interessantes angesprochen wurde. Aber trotzdem war ich froh, dass das Abitur vor der Tür stand und ich bald alles hinter mir hatte.

      Ich besuchte damals das kleine Gymnasium in unserer Stadt, in dem es zwar viele Einsiedler und Sonderlinge gab, doch ich war besonders merkwürdig. So merkwürdig, dass beinahe alle anderen jeglichen Kontakt mit mir verweigerten. Nicht, dass mich das gestört hätte. Ich verweigerte schließlich auch jeglichen Kontakt mit ihnen, wir waren eben zu unterschiedlich. Meine selbst gewählte Einsamkeit gefiel mir, ich vermisste nichts. Nur eine richtige Familie.

      Deshalb zählte ich zu den Außenseitern der Schule, die den Kontakt mit anderen Schülern scheuten und auch den Lehrern so gut es ging aus dem Weg gingen. Doch nun hatten die Weihnachtsferien gerade erst begonnen. Die Schule hatte also Pause, ich war meine größte Verpflichtung los. Zwei Wochen nur zusammen mit meinen Büchern. Quasi ein Paradies. Das hielt mich aber nicht davon ab, die Kirche zu besuchen.

      Nachdem der Pfarrer das Vater Unser gesprochen und die Orgel ihr Spiel beendet hatte, war die Kirche so gut wie leer. Üblich ist es, dass die Gemeinde die Kirche während des Orgelnachspiels verlässt und dem Pfarrer folgt, welcher langsam den Gang zum Ausgang entlang schreitet. Ich war immer der Letzte. Im Gegensatz zu anderen meines Alters konnte ich es nicht kaum erwarten, dass der Gottesdienst endete und man endlich zur Bescherung übergehen konnte. Ich blieb sitzen und lauschte den bedrückenden Klängen der Orgel, welche von allen Seiten widerzuhallen schienen. Dieser Wall aus Tönen schloss mich ein und hielt mich fest, bis der letzte Ton verstummt und Stille eingekehrt war, Stille, wie man sie heute eigentlich nur noch in leeren Kirchen finden kann, nur unterbrochen von knisterndem Gebälk und der lautlosen Gegenwart Gottes, die ich besonders hier spürte. Ein wundervoller Ort, am liebsten wäre ich gleich dort geblieben.

      Stattdessen wickelte ich mir den Schal um den Hals und verließ langsam die Kirche. An der Tür stand der Pastor, als hätte er auf mich gewartet. „Gesegnete Weihnachten“, sagte er und gab mir die Hand. Ich, schüchtern wir ich nun einmal bin und nicht sehr erfahren im Umgang mit Fremden, senkte die Augen unter dem gütigen und etwas verwunderten Blick des Pfarrers, erwiderte leise das Gesagte und rannte dann schnell davon, ohne den Kopf zu wenden und den mich verfolgenden Blick des erstaunten Pfarrers zu bemerken. Mir war schon aufgefallen, dass er mich in letzter Zeit beobachtete, wenn ich die Kirche aufsuchte. Wahrscheinlich war ich ihm suspekt. Oder er vermutete, dass ich plante, die Kirche auszurauben. Einen Jugendlichen mit einer wirklich engen Beziehung zu Gott in seinen Gottesdiensten zu haben, war er wohl nicht gewohnt. Naja, ich konnte ihm sein Interesse nicht recht übel nehmen, denn sicherlich suchte er noch Leute für seine Jugendgruppen, die sich in unserer Stadt nicht allzu großer Beliebtheit erfreuten. Natürlich hätte mich da nichts hinbewegen können. Hoffentlich fragte er mich nicht beim nächsten Mal.

      Es schneite.

      Die Stadt lag schlummernd wie unter einer großen Sahnehaube, das Dämmerlicht senkte alles in eine feierliche Atmosphäre ab. In den Fenstern sah ich beim eiligen Vorbeigehen strahlende Kinderaugen und glückliche Erwachsene, alle versammelt um den Weihnachtsbaum. Alles war so, wie Weihnachten sein sollte.

      Schnaufend erreichte ich die Goethestraße, in der ich mit meiner Pflegefamilie wohnte. Das Haus sah so aus wie jedes andere, ein verputzter Backsteinbau mit roten Dachziegeln, in seiner Gesamtheit weder schön noch hässlich. Dieses Haus war ebenso unspektakulär wie seine Bewohner.

      Die Familie Cordes bestand aus Bernhard, der Bankdirektor war und von super freundlich zu unausstehlich fies und aggressiv umschalten konnte, Madeleine, die seine Frau war und nebenbei in dem größten Kaufhaus der Stadt arbeitete, und Constanze, der Tochter der beiden, die ein Jahr älter war als ich. Alles, was noch zu der typischen Familie fehlte, war ein Hund. Wenn meine Beziehung zu Bernhard hauptsächlich auf Furcht basierte und ich mich mit Madeleine noch ganz gut verstand, dann endete meine Sympathie schlagartig bei Constanze. Sie bildete so ziemlich das Gegenteil zu mir. Ihre Interessen beschränkten sich auf Fernsehen gucken und Zeitschriften durchblättern, die nur aus Fotos und Fotounterschriften zu bestehen schienen. Mit der Schule war sie fertig und machte nun eine Ausbildung in einem Friseursalon. Ich machte, wann immer ich konnte, einen großen Bogen um sie, was sich nur abends als schwierig gestaltete, da unsere Zimmer direkt nebeneinander lagen und wir uns, leider Gottes, ein Bad teilen mussten, was selbstverständlich oft zu Reibereien führte, da sie mich ungefähr so verabscheute wie eine besonders penetrante Mücke und mich auch ungefähr so behandelte. Allerdings schlug sie nicht nach mir, aber mehr konnte ich nicht erwarten. Früher war das mit uns anders gewesen, doch spätestens seitdem sie damit angefangen hatte, sich zu schminken, herrschte Krieg mit seltenem Waffenstillstand.

      Um ihr nicht zu begegnen, stand ich in der Regel um sechs Uhr auf und ging um zehn Uhr abends ins Bett, jeweils eine Stunde eher, als Constanze es zu tun pflegte. Auf diese Art und Weise hatte der Hausfrieden eine vage Chance gehalten zu werden.

      Doch da dieses meine Geschichte ist, hat das Ereignis, das der Geschichte ihren Anfang gibt, natürlich in erster Linie etwas mit mir zu tun. So ist der Ausgangspunkt für unsere Geschichte, dass ich nach dem Nachmittagsgottesdienst am Heiligen Abend nicht nach Hause zurückkehrte. Während ich noch schnaufend vor der Eingangstür stand und in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel suchte, fiel mein Blick durch das Wohnzimmerfenster der Familie, die mich beherbergte. Dort saßen sie zu dritt auf dem Sofa und sahen fern, wie es sich für eine gut bürgerliche, nicht allzu streng gläubige katholische Familie am Heiligen Abend kurz vor der Bescherung gehörte.

      Ich fand den Schlüssel nicht. Deshalb führte ich meine Hand zur Klingel, doch kurz bevor mein Finger den Knopf berührte, hielt ich inne. Sie sahen so glücklich aus, alle drei. Zusammengequetscht auf dem Sofa, Schokolade krümelnd und gebannt auf den Fernseher starrend. Das war eine gewollte Einheit.

      Mir ging auf, dass ich einfach nicht dazu gehörte, nicht dazu gehören konnte.

      Kein Platz für mich.

      Ich hätte wohl in dieser trauten Gemeinschaft nur gestört. Mit dieser Erkenntnis begannen alle meine Probleme, die sich in diesen Ferien und den Wochen danach entwickeln sollten.

      Ich klingelte nicht.

      Da haben wir das Ereignis, das den Anfang zu meiner Geschichte bildet.

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