Schlussakt. Joana Goede
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Die Straßen waren leer, eine weiße Pulverschicht hatte sich auf alles gelegt und die Welt in ein Wintermärchen verwandelt. Dort schlenderte ich durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Sie war wie verzaubert. Die Leuchtreklamen der Läden warfen ein nahezu gespenstisches Licht auf meinen Weg. Die Geschäfte waren dunkel und still. Nichts regte sich. Nur der Schnee rieselte leise und unbeschwert zur Erde. Ich fühlte mich wie in einem Traum, der mich aus dieser Welt herauslöste und in eine neue steckte, die viel unwirklicher und träumerischer war. Ich suchte in meinen Taschen. Ein paar Scheine waren noch übrig geblieben vom Taschengeld der letzten Monate, doch was waren schon ein paar Euros in dieser Welt? Dafür konnte man nichts bekommen, davon konnte man nicht leben. Das Geld knisterte zwischen meinen Fingern und ich taumelte wie benommen durch den Schnee. Typisch für meine Traumwelt. In Büchern konnte passieren was wollte, es war alles möglich. Nur lebte ich nun einmal in keinem Buch.
Ich wachte auf. Willkommen in der Realität, sprach mein Verstand. Was hatte ich mir nur gedacht? Ich hatte gar keine Chance, diesem Leben auszuweichen und es zu meiden. Ich steckte darin fest. Der ganze Weihnachtstrubel musste mich verwirrt haben. In dieser Zeit der feierlichen Gottesdienste und der Ferien hatte ich mich von dieser Welt entfremdet. Hier war nichts möglich. Man konnte nicht einmal gehen, wohin man wollte und wann man wollte.
Ich hatte nun die Innenstadt verlassen und schlenderte durch die verschneiten Nebenstraßen, die nur durch einzelne Straßenlaternen etwas erhellt wurden. Inzwischen war der Himmel schwarz. Ich näherte mich dem Stadtrand, obwohl ich wusste, dass es unvernünftig war, was ich tat. Bald würde ich umkehren müssen, dieser Wendepunkt kam immer, früher oder später. Ich hatte schon ein bisschen Erfahrung mit dem Davonlaufen. Früher war ich auch schon regelmäßig aus diversen Kinderheimen geflohen, doch es war unmöglich, sich als Kind versteckt zu halten und irgendwie zu überleben. Nach ein paar Tagen hatte ich immer aufgeben müssen. Meistens hatte man mich irgendwo entdeckt und sofort in ein anderes Heim gesteckt. Das war wieder typisch. Anstatt sich mit einem Kind, das Probleme macht, besonders intensiv zu beschäftigen, schickte man es einfach weg und glaubte damit, die Sachlage entschärft zu haben. Das war falsch, denn dadurch wurde alles nur noch schlimmer
Und jetzt war auch noch Winter, das machte die Lage noch prekärer. Die Nächte waren kalt, der Wind fraß sich unbarmherzig durch alle Kleider. Ich wusste, dass ich einen Fehler machte. Ich wusste auch, dass ich wieder würde aufgeben müssen, wenn mein Geld zu Ende ging oder ich es vor Kälte nicht mehr aushielt. Ich überlegte einen Moment lang umzukehren, doch dann verwarf ich den Gedanken wieder, obwohl es eigentlich das Vernünftigste gewesen wäre. Was erwartete mich denn, wenn ich tatsächlich kehrtmachte? Eine Geschichte, in der ich nichts zu suchen hatte, in die ich nicht gehörte. Es war nicht die erste gewesen, aus der ich hinauskatapultiert worden war. Schon meine erste Geschichte hatte mich nicht haben wollen. Irgendetwas musste ich falsch machen, von Anfang an. Oder ich war einfach nur unter einem ungünstigen Stern geboren, der sich einen Spaß daraus machte, mich umher zu schubsen, wie es ihm gerade passte. Meine Eltern hatten mich als Fünfjährigen abgegeben, weil sie mich nicht wollten. Sie waren jung, sie hatten eigentlich kein Kind gewollt. Sie wollten wieder unabhängig sein, wie früher. Aber ich fand, es hätte ihnen auch ruhig etwas früher einfallen können. Jahre später hatten sie sich meiner entledigt und waren fortgezogen, wohin, wusste ich nicht. Vermutlich sehr weit weg. So weit, dass sie auf keinen Fall von ihrer missglückten Vergangenheit eingeholt werden konnten. Ich war vermutlich der dunkle Fleck in ihrem Leben, doch ich hätte viel dafür getan, in einer heilen Familie aufzuwachsen, bei Eltern, bei denen ich mich geborgen und zugehörig fühlen konnte. An meinem jetzigen Aufenthaltsort war ich ein Fremder. Aus solchen Kindern wurde nie etwas, dass hatte ich mehrmals gelesen. Denn wenn man schon in der Kindheit kein ordentliches Elternhaus hat, bleiben tiefe psychische Schäden. Die hatte ich gewiss auch.
Ich dachte an meine Eltern und versuchte mich zu erinnern, doch ich konnte es nicht. Meine Pflegemutter hatte mir einmal erzählt, warum sie mich abgegeben hatten und aus ihrem Mund hatte es nicht einmal schlimm geklungen, doch ich hatte immer gewusst, dass es schlimm war. Zumindest für mich war es das. Auch wenn ich es mit meiner Pflegefamilie natürlich hätte schlechter treffen können. Ich beschwerte mich ja nicht. Aber irgendetwas schrie laut in mir auf vor Ungerechtigkeit, die mir zweifelsohne widerfahren war. Eigentlich musste doch bald einmal etwas passieren, um diese Ungerechtigkeit auszugleichen. Ich musste doch auch einmal Glück haben.
Mein Verstand schob das Selbstmitleid zur Seite. Das konnte ich nicht mehr ertragen, nicht heute. Ich wusste, dass ich von vorne herein in der falschen Geschichte gewesen war und es nun an mir war, in meine Richtige hineinzufinden. Das war unmöglich, wenn ich mich in einem Zuhause versteckte, in das ich nicht gehörte. Doch es war ebenso unmöglich, indem ich einfach davonlief, ohne ein Ziel oder die Mittel dafür zu haben. Es war noch nicht der richtige Tag dafür, es war zu früh.
Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb schließlich stehen, überdachte meine Entscheidung noch einen Moment und machte vor dem Ortsausgangsschild kehrt. Es machte keinen Sinn, mich in Träumen zu verlieren. Ohne einen Plan kam ich hier nicht weiter. Ich musste wieder zurück, und das möglichst schnell, damit es nicht so sehr auffiel. Sicherlich sorgte man sich bereits um mich. Ich eilte also die Straßen entlang, machte jedoch einen kurzen Umweg zur Kirche, denn ich hatte die leise Hoffnung, dass ich den Schlüssel vielleicht dort vergessen haben könnte. Ich hatte schon oft Sachen in der Kirche liegen lassen, also war es durchaus eine Möglichkeit, eigentlich auch meine einzige, um größerem Ärger aus dem Wege zu gehen, eben dort nachzusehen. Ich fürchtete mich sehr vor der Reaktion Bernhards. Seine Aggressivität machte mir nicht selten Angst.
Die Straßen waren wie ausgestorben, doch es bereitete mir Mühe, zu rennen, ohne in den Kurven auszurutschen, da der Boden unter dem Schnee gefroren war. Erleichtert stand ich schließlich vor der von außen angestrahlten Kirche und fühlte mich gleich etwas besser. Nun war ich überzeugt, dass der Schlüssel dort liegen musste, unter meiner Bank. Woher diese Überzeugung kam, wusste ich aber nicht.
Ich öffnete die quietschende Kirchentür. Sie war nicht verschlossen, vielleicht war noch der Küster in der Kirche. Rechts und links neben dem Altar ragten die großen Weihnachtsbäume in die Höhe, die feierlich geschmückt waren und Größe und Erhabenheit ausstrahlten. Das Innere der Kirche war nur noch durch Kerzenschein erhellt und vor dem Altar kniete eine Gestalt. Es musste wohl der Pastor sein. Erschreckt fuhr dieser herum, als er die Kirchentür hörte. In dem Moment, als er mich erkannte, lächelte er. „Hast du etwas vergessen?“ Ich nickte stumm, ging zu meiner alten knarrenden Bank und hob meinen Schlüssel auf. Der Pfarrer beobachtete mich, sagte jedoch nichts mehr. Der Schlüssel lag tatsächlich unter der Bank. Bevor ich ging, verabschiedete ich mich durch ein kurzes Nicken in Richtung des Pfarrers und verließ dann schnellen Schrittes die Kirche. Auch dieses Mal wandte ich nicht den Kopf, doch jetzt schaute der Pfarrer wohl auch nicht mehr so verwundert hinterher. Aber im Stillen fragte er sich sicherlich, was es wohl mit mir, diesem sonderbaren Jungen, auf sich hatte.
Ich erreichte mein Zuhause mit etwa zwei Stunden Verspätung. Also keine Chance, dass mein Zuspätkommen niemandem auffallen könnte. Als ich die Tür öffnete, schlug mir die erwartete Strafpredigt Bernhards (immerhin in weihnachtlicher Milde), Madeleines erleichterte Umarmung und Constanzes an Enttäuschung grenzende Gleichgültigkeit entgegen. Ich war eben wieder zu Hause, ein komisches Gefühl.
Ich ertrug all dieses ohne Murren, entschuldigte mich und dann schritt die Familie zur Bescherung. Es ist noch nicht an der Zeit, dachte ich mir. Ich muss noch etwas warten. Natürlich verlief die Bescherung wie bei anderen Familien auch. Begleitet von viel Gezeter und Streitereien, die so überhand nahmen, als hätten sie das ganze letzte Jahr darauf