Schlussakt. Joana Goede

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Schlussakt - Joana Goede

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zu entladen, wurden die Geschenke verteilt. Anschließend aßen wir Braten, den ich nicht anrührte. Irgendwie sah er für mich so aus, als hätte er vor kurzem noch gelebt, was wahrscheinlich auch der Fall war. Vielleicht hatte er sogar einen Namen gehabt. Ich konnte nichts essen, das einmal einen Namen gehabt hatte.

      In dieser Nacht machte ich keine Sekunde die Augen zu, sondern las einen neuen Roman, den ich zu Weihnachten bekommen hatte. Vielleicht sieht meine Geschichte so aus, dachte ich dabei. Aber wahrscheinlich war sie doch ganz anders, denn keine Geschichte gleicht einer anderen. Der Protagonist in dem Roman erlebte Abenteuer, doch alles ging immer gut aus, wie gefährlich und aussichtslos die Lage auch sein mochte. Am liebsten hätte ich seine Identität angenommen, doch das Buch wollte mich nicht. Ich fand den Eingang nicht in diese Welt. In gewissem Sinne fühlte ich mich wie der Graf von Monte Christo, der sich durch Unmengen von Gestein wühlen musste, das ihn von der Welt trennte. Nur ein schmales Fenster zeigte ihm das wahre Leben, von dem man ihn ausgeschlossen hatte. Ich selbst verzog mich ganz automatisch in meine Fantasie und das Fenster zur Realität wurde immer kleiner. So kam es mir vor und es ängstigte mich. Ich wusste nichts über mich und konnte mich demzufolge auch nicht richtig verstehen. Wie sollte ich auch wissen, wieso ich war, wie ich war?

      Die Weihnachtstage vergingen wie im Fluge. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, wie ich das Problem angehen könnte. Leider kam ich nie zu einem eindeutigen Ergebnis.

      Aber trotzdem war es genau die Zeit, die ich brauchte, um mich auf meine lange Reise vorzubereiten, die ich plante. Im Sommer könnte ich mich endlich auf die Suche nach meiner eigenen Geschichte machen, damit ich mich nicht mehr in fremden Geschichten verkriechen musste. Hier gehöre ich nicht her, dachte ich mir. Doch wohin gehöre ich?

      *

      Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie, die Fliege. Sie schwirrte immer wieder um die Deckenlampe herum, ohne sich mal länger zu setzen. Dabei gab sie das typische, nervige von allen Fliegen verursachte Brummen von sich, doch ich hatte den Eindruck, dass das keiner außer mir selbst wahrnahm. Sie flog immer im Kreis, die ganze Zeit. Manchmal setzte sie sich kurz, wohl um zu verschnaufen, doch dann breitete sie wieder ihre kleinen dünnen Flügelchen aus und erhob ihren haarigen, hässlichen Insektenkörper in die Lüfte. Fliege müsste man sein.

      Die Deckenlampe, die sie manchmal als Rastplatz nutzte, war sehr altmodisch und mit einem nicht minder hässlichen, etwas vergilbten braunen Stoff bezogen, auf dem kleine Blümchen abgebildet waren, die an ihrer Scheußlichkeit beinahe die Tapete übertrafen. Diese war gelb mit braunen Mustern darauf, wobei nicht mehr zu erkennen war, was die Muster einst dargestellt hatten, denn sie waren so stark verblichen, dass meine Augen zu brennen begannen, wenn ich lange darauf schaute wie auf ein unscharfes Photo. Ich konnte sie unmöglich geöffnet halten, also musste ich ununterbrochen Blinzeln, denn den Blick von der Tapete abwenden konnte ich nicht. Sie zog meinen Blick immer wieder magisch an, wie bei einem Kind, das mehrere Male helle Glühbirnen berührt, obwohl seine Erfahrung es lehrt, dass es sich die Finger verbrennt. Allerdings war es wohl nicht nur meine kindliche Naivität, die da von der Langeweile zu Tage befördert wurde, sondern vermutlich trug das schummerige Licht auch seinen Teil dazu bei, in dem man eigentlich nichts so richtig scharf sehen konnte, was sich nicht in unmittelbarer Reichweite des Lampenlichts befand, so wie das schwarze, schwirrende Insekt.

      Vielleicht war es aber auch der Zigarrenrauch, der in meine Augen stach. Dieser bewegte sich langsam in beinahe unsichtbaren, aber deutlich riechbaren Schwaden immer direkt auf mich zu, als wenn er es gerade auf mich abgesehen hätte. Ich also mal wieder als das Opfer. Selbst eine so leblose und gänzlich gefühllose Substanz wie dieser Zigarrenrauch schien mir diese Rolle zugeteilt zu haben. Ich war beleidigt und drehte mein Gesicht in die andere Richtung. Möglicherweise half das ein wenig.

      Onkel Viktor hatte die Gewohnheit vor dem Essen, beim Essen und nach dem Essen Zigarren zu rauchen, und dies ohne Pause, wie es mir erschien, also keine Chance auf ein fröhliches Entrinnen. Die anderen schien das nicht zu stören, sie hatten sich wohl daran gewöhnt. Aber ich konnte das nicht. Obwohl ich nun schon seit sieben Jahren im Hause Bernhards und Madeleines lebte, konnte ich die unverwüstliche Verwandtschaft nicht recht akzeptieren. Unverwüstlich deshalb, weil beispielsweise Onkel Viktor, trotz seines unbeschreiblichen Zigarrenkonsums, die achtzig schon seit einigen Jahren überschritten hatte. Ebenso seine Frau Martha, deren sechsundachtzigster Geburtstag heute, am 28. Dezember, gefeiert wurde. Diese Erfahrung ließ mich die Vorträge, die man uns in der Schule über die fürchterlichen Konsequenzen des Rauchens und des Alkoholtrinkens gehalten hatte, schlagartig vergessen, doch den Lehrern hatte ich sowieso nie richtig getraut. Trotzdem verwunderte es mich immens, dass der breite Klotz Onkel Viktor tatsächlich immer noch atmend neben mir saß und zwar gelegentlich hustete, aber ansonsten keine Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung zeigte.

      Ich beobachtete, während ich in einem besonders unappetitlichen, fettigen und matschigen Stück Sahnetorte herumstocherte, die Fliege. Diese hatte es mittlerweile aufgegeben, um die Lampe herumzufliegen und surrte nun scheinbar nach Beute Ausschau haltend über den Tisch. Die Beute waren natürlich Kuchen und Sahnereste, vielleicht auch Kekse. Die Fliege schien sich nicht entscheiden zu können, auf welchen Teller sie sich stürzen sollte. Ich hatte neulich gelesen, dass Fliegen ihre Nahrung erst ansabbern, bevor sie sie mit ihrem kleinen Rüssel einsaugen. Ich starrte fasziniert die Fliege an und studierte ihr Verhalten genau, als sie sich auf einem dicken Klecks Sahne niederließ. Das Objekt meiner Beobachtung war allerdings so klein, dass ich aus dieser Entfernung leider nichts Interessantes erkennen konnte. Eigentlich war die Vorstellung einer auf Sahne sabbernden Fliege ja auch eher abstoßend. Ich schüttelte mich möglichst unauffällig, um meine verwirrten und verrückten Gedanken wieder an den richtigen Platz zu zwingen. Die schlechte Luft und die merkwürdige Gesellschaft taten offensichtlich ihre Wirkung.

      Leider hatte ich wohl durch meinen verklärten und geistig umnachteten Gesichtsausruck die unerwünschte Aufmerksamkeit meines Sitznachbarn auf mich gezogen.

      Onkel Viktor stieß mich von der Seite her an und schlug mir mit der flachen Hand väterlich auf den Rücken, so dass ich unwillkürlich zusammenzuckte und ein Stück nach vorne klappte. Gut, dass ich saß, so konnte ich nicht umkippen.

      „Hast du keinen Hunger, mein Junge? Madeleine, ist er vielleicht krank?“

      Madeleine schüttelte unsicher den Kopf, alle am Tisch wandten ihren Blick zu mir und musterten mich ganz genau. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen und hätte gewartet, bis sie sich nicht mehr für mich interessierten. Man starrte mich erwartungsvoll an, als wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich im nächsten Moment irgendetwas besonders Krankheitstypisches machen würde. Da ich auf Kommando weder blau anlaufen noch zwanzig rote Pocken im Gesicht kriegen konnte, stopfte ich mir schnell ein extra großes Stück Torte in den Mund.

      „Mir geht es gut“, sagte ich und erreichte somit, dass die allgemeine Aufmerksamkeit Stück für Stück wieder von mir abfiel. Ich begann die Fliege zu suchen, und entdeckte sie schließlich auf einem großen Kuchenkrümel sitzend. Manchmal wünschte ich mir, dass ich genauso unauffällig wäre wie eine Fliege. Doch da war leider nichts zu machen.

      Die Fliege entpuppte sich auf Dauer als ziemlich langweiliges Untersuchungsobjekt, so dass ich mich gezwungen fühlte, mir etwas anderes vorzunehmen. Folglich ließ ich meinen Blick von einem zum anderen lebenden Wesen in dieser Sitzrunde schweifen, was aber auch nicht unbedingt aufregender war. Wir saßen zu siebt um den Kaffeetisch, um den wir am 2. Weihnachtstag auch schon genauso gesessen hatten. Wahrscheinlich war es sogar dieselbe Torte. Alle hatten ihre festen Plätze, auf denen unsichtbar ihr Name stand, und wehe dem, der sich einmal auf einen anderen als ihm angestammten Platz setzte. Nur die Fliege war noch nicht da gewesen, sonst hatte sich nichts verändert. Ich saß wie immer genau neben dem Weihnachtsbaum, an dem echte Kerzen brannten. Vermutlich handelte es sich bei diesem um den einzigen in dieser Zivilisation, der nicht mit elektrischem Licht versorgt wurde. Immer wieder warf ich ihm einen beunruhigten Blick zu. Er stand schon so schief,

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