Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt
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Eine kleine Ewigkeit war vergangen, bis sie sich getraut hatte, dorthin zurückzukehren. Es diente noch immer demselben Zweck, und die Mädchen im Eingang hatten sich über ihre Neugier amüsiert.
«He, willste Quartier nehmen?», hatte eine ihr hinterhergerufen. «Mit deinem Kopf machste ‘nen guten Schnitt.»
Lautes Gelächter … nun hatten sie hier endlich mal was zu lachen!
«Bei einem Schlag gegen ihren Zentralcomputer hätten wir alle Trümpfe in der Hand», sagte sie, als sie zum Tisch zurückkehrte. «Wie schon seit langem nicht. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wiesbaden hat absolute Priorität. Wenn sie davon Wind bekommen, war alles umsonst.»
Angelika begann von dem Rest der Eier mit Schinken zu essen, und benutzte den kleinen Löffel aus dem Zuckertopf dazu; sie aß vorgebeugt, das verdammte Färbemittel für die Sommersprossen um ihre Nase juckte (wie immer, wenn sie erregt war), und sie versuchte, das Zucken um ihre Mundwinkel zu verbergen. Es gab keinen Grund zum Optimismus. Ob mit oder ohne Walter. Ob Sommer am Leben blieb oder nicht. Selbst wenn sie den Zentralcomputer ausschalteten, würde sie das niemals in die Position wie noch vor wenigen Monaten zurückbringen.
Zu viele ihrer Freunde waren nach der allgemeinen Hatz auf der Strecke geblieben, einige saßen in Haft. Es wirkte demoralisierend auf das Heer der Sympathisanten – von dem sie ohnehin manchmal glaubte, dass es nur in ihrer Einbildung existierte …
Im Grunde hatte sie den Glauben an eine breite Volksbewegung längst verloren. Die logische Konsequenz daraus wäre gewesen, herauszufinden, wie man am besten seinen Kopf aus der Schlinge zog. Es gab nur wenige Möglichkeiten. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken …
Sie hatten den Toten in der Wohnung zurückgelassen.
Irgendwann würde man ihn dort finden. Alle nur denkbaren Spuren waren sorgfältig beseitigt worden, obwohl sie planten, nach Sommers Ermordung noch einmal dorthin zurückzukehren.
Sommer besaß ein Haus in Königstein, einem kleinen Kurort nördlich von Frankfurt, und er fuhr die 30 Kilometer von seinem Wiesbadener Büro täglich nach Hause.
Es hatte sie einige Mühe gekostet, das herauszufinden, da man seine Adresse sorgfältig geheim hielt. Sie nahmen an, dass er sich während der Arbeit in Frankfurt genauso verhalten würde, weil es eine gute Straßenverbindung gab und die Strecke noch kürzer war.
Er würde «heim in Mamis Schoß» kehren, wie Richard zu sagen pflegte, um sich von den Nervenanspannungen der Terroristenjagd zu erholen.
Was ihm nicht viel weniger als das Genick brechen wird, dachte sie verächtlich.
Der Motor des Audis schnurrte leise, es war eine Hundert-PS-Maschine, stark genug, um jeden Verfolger abzuhängen, und Richard galt als ausgezeichneter Fahrer. Von der Autobahn bogen sie auf die Bundesstraße 8 ab.
Sie verspürte wieder diese Kälte in der Magengegend, die sie immer überkam, wenn es schwierig und gefährlich wurde – und wenn sie sich im Einklang mit den Zielen befanden … den alten Zielen, an die niemand mehr glaubte. Ihre Nervosität dauerte meist nur Sekunden.
Ein Stich im Solarplexus, und alles war vorüber.
Ihre Stimme wurde wieder kühl. Sie handelte dann wie ein Automat, der in der Lage war, sich selbst zuzusehen, den präzisen Bewegungen, Handlungsanweisungen und raschen Entschlüssen: als würden sie durch Lochstreifen oder Magnetbänder abgerufen. Diese Fähigkeit – beinahe emotionslos zu sein, wenn es darauf ankam – hatte ihr die eindeutige Führungsrolle gesichert.
Sie bogen ein, die Straße fiel vom Berg steil ab, vorüber an bewaldeten Hängen, in deren Dunkel jetzt nicht einmal mehr die Stämme der Fichten auszumachen waren. Streusand lag über dem Asphalt. Die Wagenreifen wirbelten ihn gegen das Bodenblech. Hier und da leuchteten Fenster von einzeln stehenden Häusern, aber immer weit weg. Sie passierten eine stillgelegte Tankstelle.
Angelika zeigte nach links, «In den Waldweg.»
Werders schaltete das Deckenlicht ein, als sie im Schutz des Weges parkten, und kontrollierte seine Waffe. Richard nahm das zusammengerollte Plakat mit der Kordel und die Polaroidkamera und steckte beides in die Umhängetasche, um nachher seine Hände freizuhaben.
«Es liegt hinter dem Hügel», sagte sie. «Wir überqueren einen Bachsteg. Seht zu, dass ihr ihn beim Rückzug nicht verfehlt, das Wasser ist tief, man kann es nicht durchwaten.»
Während sie ausstiegen, fuhr sie fort:
«Es gibt einen Posten am Straßeneingang, keinen vor dem Haus. Sie rechnen nicht mit dem Waldweg. Er vertreibt sich die Langeweile in der Kneipe Am Eck. Vom Fenster aus kann er jedes ankommende Fahrzeug sehen. Er wird herauslaufen, falls er Schüsse hört, und Richard könnte ihn dann zwischen den Abfallcontainern in Empfang nehmen, wo es genügend Deckung gibt.»
Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis der silberne Bachlauf auftauchte.
Richard Fall in der schlaksigen Art, die für ihn charakteristisch war. Eine braune Tolle hing ihm weit in die Stirn, seitdem die neuesten Fahndungsplakate ihn mit kurzgeschnittenem Haar zeigten. Von allen in der Organisation war er ihr der liebste.
Hinter seinem Unernst verbarg sich allerdings ein Hang zur Gewalttätigkeit, den sie oft für bloßen Selbstzweck hielt.
Fall pflegte zu spötteln, er sei als Kind nie geschlagen worden, was in ihm ein tiefes Verlangen erzeugt habe, sich durch seine Fäuste mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen. Gelegentlich hatte sie den Eindruck, dass er trotz seines Engagements und der Bereitschaft, sein Leben zu riskieren, mehr zufällig in ihren Kreis geraten war.
Seine politischen Ansichten hielt sie für verworren: Er neigte heute den Anarchisten und morgen den Sozialisten zu. Der marxistische Endzustand der Gesellschaft schien ihm schnuppe zu sein – «völlig unvereinbar mit der menschlichen Natur» –, trotzdem hatte er sich eine billige Ost-Berliner Bibliothek der Werke Stalins zugelegt, in der Übersetzung der Erstausgabe, die er bibliophil pflegte.
«Das weiße Haus da. Sommers Arbeitszimmer ist zur Straßenseite. Charlotte hat herausgefunden, dass er sich abends meist im Zimmer an der Veranda aufhält.»
«Und seine Frau?», fragte Werders.
«Ein dummes Geschöpf, das nur für die Küche taugt.»
«Besitzt sie eine Waffe?»
«Sie hat Papa Sommer, der ist Waffe genug», witzelte Richard. «Er wird ihr fehlen.»
Ohne Sommer, dachte sie, war der Weg frei. Mit Sommer würde es ein Kampf nach zwei Seiten sein – die gewöhnlichen Polizeiorgane nicht eingerechnet –, und das in der Vorbereitungsphase, wenn sie den französischen Computerspezialisten einwiesen, den Charlotte und Lena aus Paris mitbrachten.
Doch auch davon abgesehen war es zweckmäßiger, ihn zu töten. Schon das abgerissene Deckblatt eines Frankfurter Stadtplans, in einem gestohlenen Wagen aus Heidelberg vergessen, hatte ihn sofort in der Stadt auftauchen lassen. Wie ein Bluthund, dem die geringste Witterung genügte.
Sommer verhandelte nicht, er machte kurzen Prozess. Mit den Leuten vom BKA konnte man, reden. Sie würden – wenn auch unter Ausschluss der