Bubenträume. Sebastian Liebowitz
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Leider jedoch sollte schon wenige Tage später eine unglückliche Verkettung von Umständen in einem spektakulären Sturz über besagte drei Treppenstufen resultieren. Es gab da, wenn auch nur insgeheim, mehrere Varianten. In der offiziellen Darstellung des „bedauernswerten Unglücksfalls“ war jedoch nur von „einer dunklen Stunde in der Geschichte des traditionsreichen Schulhauses „Seidentraum“ die Rede. Zugegeben, „Bedauernswerter Unglücksfall“ tönt natürlich besser, als „euer Lehrer ist besoffen die Treppe hinuntergestürzt“. Vor allem über die Lautsprecheranlage.
Es kamen also zusammen:
1) In Fetzen von den Füssen hängende Filzpantoffeln.
2) Ein erheblicher Restalkoholspiegel, der im Verlauf des Tages stetig anstieg.
3) Drei Treppenstufen
4) Ein Lehrerzimmer, welches im Parterre lag.
5) Eine Flasche Korn
Und natürlich Herr Patens, der es kaum erwarten konnte, mit erstem und zweitem über drittes ins vierte zu gelangen, um sich fünftes zu genehmigen.
Gerüchtehalber war auch von einer Schnur die Rede, die jemand gespannt haben soll. Wie gesagt, gerüchtehalber, denn beweisen konnte das nie jemand. Und vielleicht wäre ja auch alles ganz anders gekommen, wenn es Herr Patens an diesem schicksalshaften Tag nicht besonders eilig gehabt hätte, zu seinem Fusel zu kommen. Kaum war die Lektion vorbei, sprang er schon auf und schlurfte, so schnell es auf seinen Pantoffeln ging, aus dem Schulzimmer. Dann hörte man ihn den Gang entlangeilen, plötzlich war ein erstickter Ausruf zu hören und holterdiepolter, war der Säufer prompt die paar Treppenstufen zum Lehrerzimmer hinunter gepurzelt.
Wie beim „Gespenst von Canterville“ hallten kurz darauf seine Wehklagen durch den Gang: „Ahhhh, ohh, auaa..!“
Dann waren schlurfende Schritte zu vernehmen, während er sich unter grossem Gejammer und Gestöhne ins Lehrerzimmer schleppte. Kurz darauf knackste es aus dem Lautsprecher und ein langgezogenes Stöhnen erklang.
„Aaaahhhh, aua, ohh…“
Erneut ein Knacksen, dann hörte man schweres Schnaufen.
(Schnauf, schnauf) „Auah, ohh“ (schnaufschnauf) „Andiii-oooh“ (das galt Herrn Behrens, der gleichzeitig als Sanitäter fungierte), „ooh, auaa“, jammerte er, „bitte Andi (schnaufschnauf) ooh, auaah, ahhh, sofort ins Lehrerzimmer, auahh.ohh.“
Nachdem das letzte Stöhnen verhallt war, herrschte gespannte Stille im Klassenzimmer.
„Der verdammte Vic hat also tatsächlich ernst gemacht“, flüsterte Bürgi. „Sieh an, sieh an, dass hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
„Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“, fragte ich. „Sicher tut er nur so.“
„Was tut er?“, fragte Bürgi und deutete mit dem Kinn auf Victorio, „er macht ja gar nichts. Als ob er kein Wässerchen trüben könne. Überleg doch mal, vor ein paar Tagen bringst du ihn auf diese Idee und schon stolpert der Penner die Treppe hinunter.“
„Meine Idee..?“ stotterte ich, „..aber..wieso..“
Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher. War es nicht Victorio gewesen, der mitten in der Schulstunde seine Hand aufgehalten und gefragt hatte, ob er aufs Klo gehen dürfe? Ich sah nochmals zu Victorio, der seinen Kopf tief über ein Schulheft gesenkt hielt. Sah es bloss so aus, oder lächelte er etwa?
„Oh mein Gott“, entfuhr es mir.
Mitfühlende Naturen unter ihnen wird es freuen, zu hören, dass sich Herr Patens damals bei seinem Sturz „nur“ einen verstauchten Knöchel zugezogen hat.
Trotzdem, solche Verletzungen sind nicht zu unterschätzen. Nur zu schnell kann es zu ernsthaften Komplikationen kommen, die eine mehrmonatige Rekonvaleszenz vonnöten machen. Womit wohl auch erklärt sein dürfte, wieso wir Herrn Patens für den Rest des Schuljahres nicht mehr zu sehen bekamen. Chronischer Alkoholgenuss ist, wie man weiss, einer schnellen Wundheilung eher abträglich. Und dass Herr Patens mit seinem verstauchten Knöchel jeden Tag in die Kneipe humpelte, dürfte wohl auch eine Rolle gespielt haben.
So war Herrn Patens die Genesungskarte, die wir ihm geschickt haben, sicher ein grosser Trost. Auch Victorio hat unterschrieben, wobei sein „V“ ungewohnt schwungvoll ausfiel.
Eine geheime Botschaft an Herrn Patens, tuschelte mir Thuri eines Tages auf dem Pausenhof zu. Das „V“ stehe nämlich für „Vendetta“, das sei Italienisch für Rache, erklärte er.
Er schielte zu Victorio und schüttelte sich.
„Mit diesen Italienern legt man sich besser nicht an, die kennen da nichts, sage ich dir.“
Ich sah zu Victorio, der sich mit Bürgi unterhielt. Gerade legte er den Kopf zurück und lachte über etwas, was Bürgi gesagt hatte. Ein Bild der Unschuld. Ob an Thuris Vermutung wohl was dran war und Herr Patens nun die Quittung für sein Verhalten bekommen hatte? In mir regte sich Mitleid, und auch das schlechte Gewissen meldete sich leise zu Wort.
Aber dann fiel mir wieder die Geschichte ein, die uns Herr Patens in der Schule erzählt hatte. Wie er seiner Frau über den Fuss gefahren war. Und was er ihr damals zugerufen hatte.
Selber schuld, wenn man so blöd ist.
Schuschu
„Komm, gib Pfötchen, gib Pfötchen. Hiihihihi, ja, so ist es brav. Braver Schuschu, braaaver Schuschu.“
Mama schüttelte ihren Kopf.
„Was bist du doch für ein alter Kindskopf, dass du einen solchen Narren an einem stinknormalen Köter frisst.“
„Aber nein, nein“, sagte Papa und kraulte den schwanzwedelnden Pudel hinter den Ohren, „Schuschu ist nicht irgendein Köter, gelt, Schuschu? Jaaaaa, du bist ein ganz liebes Hundi, bist du, das schlaueste Hundi überhaupt. Komm, gib Pfötchen, hihihiiii.“ Mit grosser Geste nahm er ein Wursträdchen vom Tisch, biss sich ein Stück ab und schmatzte demonstrativ. Dabei schielte er unauffällig zu Schuschu, der ihn dabei nicht aus den Augen liess. „Hmmm, guttigutti-feinifeini Wursti“, schwärmte Papa. Dann liess er wie zufällig seine Hand mit der Wurst zur Seite fallen und „Schnapp“, war die Wurst verschwunden.
„Hiihihi“, kicherte Papa und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind, „so ein schlaues Hundi. Jaaa, das schmeckt dir, das feine Wursti, was? Gutes Hundi, schlaues Hundi.“
„Jaja, stopf ihn nur recht mit unseren teuren Würsten voll“, schimpfte Mama, „dabei hat Gerti ausdrücklich gesagt, dass er nur Hundefutter zu fressen bekommen soll, weil er sonst zu dick wird und Probleme mit den Gelenken bekommt. Wenn die merkt, dass du ihm Würste zu fressen gegeben hast, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.“
„Ja, aber wenn der Schuschu Würste nun mal so gernhat?“, sagte Papa und tätschelte Schuschu den Kopf. „Gelt, Schuschu, gaaanz gern hat du Würste, gaaanz gern. Ein Feinschmecker ist er halt, der Schuschu.“
Und schon ging das Ganze wieder von vorne los.
„Hmmm, guttigutti-feinifeini. Guuuttigutti-feiiinifeini