Alltagsattraktionen. Jan Lipowski

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Alltagsattraktionen - Jan Lipowski

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auf Dauer halten möchten.“

      Fünf bis dreißig Kilogramm auf Dauer halten? Extrem abnehmen möchte ich keinesfalls, aber jenseits des magischen 30. Geburtstags sollen ja auch Figurprobleme lauern. Ich ordne mich irgendwo zwischen Waschbrett- und Waschbärbauch ein, doch mein schokoladenfarbenes Sündenregister ist sicher länger als all meine Weihnachtswunschzettel zusammengenommen. Falls die Redensart, dass die Summe aller Sünden eine individuelle Konstante ist, stimmt, kann ein vermehrter Süßigkeitskonsum so schlimm gar nicht sein und bei reichlich Bewegung soll es an Essen nicht fehlen. Die federleichten Blaumeisen am Futterhaus pickten jedenfalls Unmengen Körner in sich hinein.

      Ich beschloss, dass gewichtige Thema light zu nehmen. Aber die persönlichen Abweichungen von den griechischen Idealmaßen bringen mich ins Grübeln. Warum landete der Zettel ausgerechnet in meinem Briefkasten? Observation einer potenziellen Zielgruppe in unserer visuell dominierten Welt? Mein unsicherer Rundumblick im Hof – von den Meisen war plötzlich weder etwas zu sehen noch zu hören – erfasste nur einen Schatten am Briefkasten. Aber das vermeintliche Menetekel an der Hauswand entpuppte sich als die eigene Silhouette, welche mich ob ihrer recht grazilen Form sogar etwas beruhigen konnte.

      Hoffend, dass es sich um eine allgemeine Massenwerbung handelt, verschwand ich im Hauseingang und der Zettel in meiner Hosentasche. Abnehmen ist nicht mein wahres Problem. Vor gutem Essen sage ich manchmal eindringlich „Oberarm!“ zu den Filetspitzen der Nahrungskette auf meinem Teller – doch im Bizepsbereich kommt das verzehrte Muskelfleisch irgendwie nie so richtig an. Also ist eher eine Optimierung der Masseverteilung mein Ziel. Daher will ich aus Trainingsgründen beispielsweise meine Dachgeschosswohnung so oft wie möglich zu Fuß erreichen. – „… ob Hungern ohne Qualen…“, lese ich im Fahrstuhl weiter, „wir bieten Ihnen preisgünstige Körperfettanalysen und eine Zufriedenheitsgarantie rundherum. Weitere Informationen unter 0190…“ – Also das rundherum ist jedenfalls nicht besonders geschickt gewählt und an eine volle Zufriedenheit bei geringen Kosten kann ich in Verbindung mit der angegebenen Vorwahl schon gar nicht glauben. Da der Text tatsächlich mit Helena Hübsch unterzeichnet ist (Warum nicht gleich Maxi Schlanker?), erreiche ich mit einem Lächeln die fünfte Etage. Ein Zustand, der sich jedoch schnell ändern sollte, als mich meine Liebste mit Ihrer Samstag-Vormittag-Diagnose empfing: „Ich bin zu dick!“

      Nein, nicht ich – reine Selbstdiagnose. Ich bin verblüfft, zudem erscheint die Spannweite zwischen „dick“ und „zu dick“ für Männer nicht erfassbar. Und wie kann Letzteres eintreten, wenn Ersteres nicht einmal annähernd gegeben ist?

      Obwohl die Objektivität meines Einwandes rundheraus beziehungsweise schlankweg abgelehnt wird, verbuche ich den Ausbruch ihrer zyklischen Krise erleichtert irgendwo zwischen überspitztem Optimierungswillen und Phantasie. Frauen, die mit ihrer Figur zufrieden sind haben etwa die Häufigkeit eines ausbezahlten 20.000-EURO-Preisrätselhauptgewinns, an welchem man nicht einmal teilgenommen hat. Nun komme mir keiner damit, dass er schon derartige Ankündigungen im Briefkasten fand. Ausbezahlt! Und wer sich von seiner lieben Mutter eine 501 – und noch dazu als Frau – abnähen lässt, neigt wohl erstens eindeutig zur Magersucht und sollte zweitens lieber Hausfrauenkurse (am besten im Doppel Kochen und Nähen) besuchen, was im Gegensatz zu Jeans leider völlig aus der Mode gekommen scheint.

      Noch bevor ich mich völlig in politisch unkorrekte Gedankengefilde hineinsteigern kann, fragt mich die Liebste nach meinem Taschenrechner und verschwindet mit einer Frauenzeitschrift in der Hand, um einen so genannten Body-Mass-Index zu bestimmen. Nun ist ihr Gewicht, neben der Frage warum ich trotz gelegentlicher Teilnahme nie bei Preisausschreiben gewinne, eines der bestgehüteten Geheimnisse des noch jungen Jahrtausends – beziehungsweise war es! Denn listig rief ich die letzte Operation des Taschenrechners wieder ab: „60 : 1,72² = 20,2812331“ und eine gewisse Enttäuschung stellte sich bei mir ein.

      Bereits die Trivialität der Formel verblüffte! Ursprünglich hatte ich eine hochkomplizierte mathematische Verknüpfung von Variablen wie Geschlecht, Körpergröße, Hirnmasse, Lebensalter, Beziehungsstatus und frequenz, Selbstbewusstseinskoeffizient, Wohlfühlzulage und eines vielleicht piercing- oder goldzahnabhängigen Korrekturfaktors mit dem Ergebnis des jeweilig anzustrebenden Idealgewichts vermutet. Nein! Die Deutung lag auf der Hand: Gewicht geteilt durch Größe ins Quadrat ergibt den BMI.

      Doch was bedeutet ein Zahlenwert von rund zwanzigeinhalb? Soll da im Idealfall das Lebensalter herauskommen? Interpretationsunfähig erfasst mich Ratlosigkeit. Wie alt ist eigentlich meine Liebste? Nein, so etwas weiß man natürlich – und erst Recht noch vor der Dekade ihrer »29. Geburtstage«. Die wirkliche Schwierigkeit lag für mich nun darin, sie vom eingebildeten Übergewicht ihrer Selbstdiagnose zu befreien. Nach meinem bereits gescheiterten Verbalversuch kam mir der Slogan des kleinen grünen Werbezettels wieder in den Sinn – mit einer Botschaft, die man Liebenden wohl kaum extra nahe zu legen braucht: Lust auf Figur!

      Und tatsächlich gelang es mir, meine Liebste genau dafür zu gewinnen… Der kleine grüne Zettel lag zerknüllt neben unseren Sachen unweit des Bettes, wo Partnerdiät ganz und gar nicht auf dem Programm stand… – und der vogelstimmengewürzte Spätmorgen hielt, was er versprochen hatte.

      Eiland

       Verspätet kamen wir nach dem sommerlichen Dauerstau quer durch Rügen am Hafen an, wo wir bei strömenden Regen die letzte Fähre erreichten, um von einer Insel zur nächsten überzusetzen. Auf dem Schiff nisteten Schwalben, welche ihre Lehmnester an die Stahlträger des Oberdecks geklebt hatten. Schnell gelang es den kleinen Vagabunden mit ihren Flugkünsten unsere Mienen aufzuhellen. Ich rätselte, ob diese Vögel nun einen festen Wohnsitz hatten oder nicht – als dat söte Länneken, wie die Einheimischen liebevoll zu ihrer Insel sagen, vor uns aus dem Nebel tauchte. Hiddensee!

      Eine Woche auf diesem Eiland ist erholsam wie zwei Wochen Urlaub anderswo. So gesehen hatten wir zwei geruhsame Wochen vor uns, tatsächlich aber acht Tage Ferien unterm Reetdach. Solcherart Dach hatte auf Usedom meine Liebste bereits von ihrer Spinnenphobie geheilt. Doch unser diesjähriges Feriendomizil sollte dies noch weit in den Schatten stellen…

      Die Insel empfing uns freundlich und, da hier keine privaten PKW erlaubt sind, mit bester Luft – unser Quartier jedoch mit üblem Geruch. Wir schoben dies zunächst auf das noch regennasse, dick bemooste Reetdach. Irgendwie haben wir oft das „Glück“, in besonders schönen Orten recht schäbige Quartiere abzubekommen. Mit Duftkerzen und Raumspray wird es sich schon aushalten lassen. Hauptsache, das Wetter spielt mit! – Tatsächlich brach die Abendsonne durch die Wolken und auch die folgenden Tage zog das Wetter alle Register eines schönen Sommers. Stets konnten wir unter freiem Himmel vor dem Haus frühstücken, umrahmt von weißem Mauerwerk, einer Reihe Sonnenblumen, einem Wacholderbusch und einer mit Grasnelken geschmückten Wiese. Danach spazierten wir meist zum Strand, wo wir uns in der Sonne aalten, im Schatten unseres Windschutzes gute Bücher lasen und hin und wieder in der Ostsee schwammen. Dem Badespaß setzte die nach drei Tagen auftretende Strömung ein jähes Ende. Klares, aber 10 °C kaltes Wasser, welches weder zu unserem Temperaturempfinden noch zur beinahe dreimal wärmeren Luft passte.

      Ab dem späten Nachmittag gaben wir dann das am Quartier gesparte Geld für leckeres Essen und Kultur aus. Ausgiebig genossen wir Sanddorn- und Edelfischspezialitäten. Und, um nicht außer Form zu geraten, umrahmten wir unsere Schlemmerphasen mit ausgedehnten Strand- und Heidewanderungen sowie kleineren Radtouren, denn große ließ das Eiland nicht zu. Dabei präsentierte sich die Insel als sehr abwechslungsreich: ausgedehnte Wiesen, kleine Waldgebiete, feinste Sandstrände, Schwemmland, Dünen, Heidelandschaften und die imposante Steilküste.

      Kulturell starteten wir mit dem Besuch des Gerhart-Hauptmann-Hauses in Kloster. Hier fanden gerade die Studiofilmtage statt und spätabends liefen Stummfilme. Wir sahen Chaplins Klassiker »Modern Times«, der mit einem 16-mm-Bauer-Professionell Filmprojektor unter freiem Himmel gezeigt wurde. Ambiente, Film und Rotwein harmonierten.

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