Grauen in der Parkallee. Bärbel Junker

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Grauen in der Parkallee - Bärbel Junker

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er auf seinem Bett und starrt in die Dunkelheit, starrt auf das, was er nicht erkennt und schon gar nicht zu erklären vermag.

      Was ist bei ihm im Zimmer?

      Das zischende Geräusch verstärkt sich, wird intensiver. Glitzernde Augen lodern feuerrot, rücken näher, immer näher an sein Bett heran! Nach Schwefel stinkender Atem dicht über ihm; und blankes Entsetzen verzerrt sein Gesicht. „Wer...wer si...sind Sie?“, stottert er fast verrückt vor Angst.

      Leises, unsagbar böses Lachen antwortet ihm. Etwas oder irgendwer beugt sich über ihn. Lodernde Augen dicht vor seinem Gesicht nehmen seinen Blick gefangen, versenken sich in ihn, holen das tief in ihm verborgene Böse hervor, bringen sie ans Licht die schaurige Tat von einst, verlangen nach seiner schwarz befleckten Seele.

      „Ich gehorche dir“, flüstert er unterwürfig. Er hat seinen Meister gefunden.

      Zischendes Lachen voller Bosheit, voller Triumph antwortet ihm. Etwas durchbricht die Mauer zu seinen verborgenen Erinnerungen, fegt die zum Selbstschutz errichteten Barrieren beiseite und zerrt genüsslich hervor, was verborgen bleiben sollte.

      SEINE SCHRECKLICHE TAT, BEGANGEN VOR FÜNFZIG JAHREN!

      Gernot Thomsen wimmert, versucht die Erinnerungen wieder in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses zu verbannen.

      „Zu spät“, flüstert ER. „Du musst dich stellen.“

      „Nein“, wimmert der Mann auf dem Bett.

      „Oh doch, kleiner Mensch“, kichert ER. „Durch deine grausame Tat wurdest du mein. Von jetzt an gehörst du auf ewig mir! Weißt du noch?“

      „Nein“, stöhnt der Mann, doch wie ein Film rollt das Geschehen noch einmal vor ihm ab:

      „Ich will nicht zur alten Mühle gehen, Gernot. Sie ist so weit weg und es gibt dort bestimmt Ratten“, wehrte sich sein neun Jahre jüngerer Bruder Martin, ein Nachzügler von sechs Jahren und der auserkorene Liebling der ganzen Familie.

       Gerade als sich Gernots Eltern schweren Herzens damit abgefunden hatten kein zweites Kind mehr zu bekommen, hatte es doch noch geklappt. Martin war unterwegs, von seinem Bruder bereits vor seiner Geburt aus tiefster Seele gehasst.

       Reg deine Mutter nicht auf, es könnte dem Baby schaden.

       Sei still, Gernot, deine Mutter und das Baby unter ihrem Herzen brauchen Ruhe.

       Widersprich deiner Mutter nicht, Gernot, in ihrem Zustand schadet ihr jegliche Aufregung.

       Denk an das Baby, Gernot! Tagaus, tagein dieselbe Litanei; und das Wort „Baby“ wurde für Gernot zum meist gehassten Begriff in seinem Leben.

       Und dann war es endlich soweit. Sein Bruder Martin erblickte das Licht der Welt und damit begannen für Gernot erst die wirklichen Probleme.

       Sei vorsichtig, Gernot, dein Bruder könnte fallen.

       Sei ruhig, dein Bruder schläft.

       Nein, du kannst nicht zu deinem Freund, du musst auf deinen kleinen Bruder aufpassen.

       Und dann wurde sein Vater auch noch arbeitslos und ständig hieß es: Gernot, dein Bruder ist noch so klein, er hat doch überhaupt noch nichts vom Leben gehabt, da kannst du doch wohl mal verzichten.

       Und er schluckte und verzichtete; schluckte und sagte wieder ein Fußballspiel mit seinen Freunden ab, um auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Bis er sich in Karen verknallte, die sich jedoch seinem Schulkameraden Kevin zuwendete, weil er nie Zeit für sie hatte.

      „Ich muss auf meinen Bruder aufpassen, Karen, aber morgen kann ich bestimmt.“ Und auch dann hatte er natürlich doch wieder keine Zeit, weil Martin, der Liebling seiner Eltern, einen Aufpasser brauchte.

       UND DANN KAM DER TAG IN DER MÜHLE!

      „Nun stell dich nicht so an, Martin. In der Mühle gibt es keine Ratten, aber dort wartet ein wunderschönes Geschenk auf dich“, lockte Gernot.

       Und Martin, der verwöhnte Nachzügler, spitzte die Ohren. „Geschenk?! Dort ist wirklich ein Geschenk für mich?“, fragte er gierig.

      „Ja, Martin. Etwas, dass du dir schon sehr lange wünschst“, versprach ihm Gernot mit dem aufrichtigsten Gesicht der Welt.

      „Also gut, dann lass uns hinfahren“, erklärte sich Martin nach kurzem Zögern einverstanden.

       Und Gernot holte sein Fahrrad aus dem Schuppen, setzte seinen kleinen Bruder vor sich auf die Fahrradstange und radelte los.

       Sie fuhren fast eine Stunde, denn ihr Ziel befand sich weit außerhalb des elterlichen Bereichs. Endlich tauchte die seit langem stillgelegte Mühle vor den beiden Kindern auf. Anklagend reckten sich ihre zerfledderten, skelettartigen Windmühlenflügel dem Himmel entgegen. Und der Wind strich wimmernd durch die leeren Fensterhöhlen und sang höhnisch sein Lied von Vergänglichkeit und Tod.

      Knarrend schwang die nur noch halbe Eingangstür in ihren verrosteten Angeln, und Martin drückte sich ängstlich an seinen großen Bruder.

      „Komm“, sagte Gernot und nahm seine Hand.

      „Ich will nicht“, murmelte Martin bang, doch Gernot zog ihn unerbittlich mit sich fort.

       Hand in Hand betraten sie die alte Mühle.

       Seines Bruders Hand mit eisernem Griff haltend, eilte Gernot an den riesigen Zahnrädern vorbei. Für einen Moment verweilten seine Augen auf den gewaltigen Mühlsteinen und ein spöttisches Grinsen über etwas, das nur er sehen konnte, huschte über sein Gesicht.

       Noch immer lächelnd lenkte er seine Schritte zu der Holztreppe, die in die oberen Etagen führte.

      „Da hinauf“, knurrte er und stieß Martin grob vor sich her.

       Glänzende, schwarze Knopfaugen verfolgten ihren Aufstieg. Nackte, lange Schwänze wirbelten erregt über den Boden. Die Ratten verfolgten jede Bewegung der ungebetenen Besucher, hielten sich jedoch noch zurück.

       Seinen anfangs protestierenden, dann weinenden und später vor Erschöpfung fast ohnmächtigen Bruder unerbittlich vor sich her schubsend, kletterte Gernot bis zur letzten Plattform hinauf, wo Martin bewusstlos liegen blieb. Keuchend sank Gernot neben ihm zu Boden.

       Als Gernot sich wieder erholt hatte, beugte er sich über seinen Bruder und schlug ihm ins Gesicht. „Aufwachen, Martin“, knurrte er und unterstrich seinen Wunsch mit weiteren Schlägen in Martins blasses Gesicht.

       Endlich öffnete der kleine Junge seufzend die Augen und richtete sich auf. „W...wo bi...bin ich?“, stotterte er verwirrt und rieb sich seine brennende Wange.

       Gernot musterte ihn schweigend und voller Hass. „Wir sind in der Mühle“, erwiderte er.

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