GENAU INS GLÜCK - Oder knapp daneben. Bernhard Bohnke
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Um 17:51 Uhr stand er vor einem etwas schäbigen Haus, das dringend einen neuen Putz gebrauchen konnte. An der Tür klebte ein Plakat: "Jeder kann positiv sein - und weiß es nur nicht." Stefan überlegte: War das möglich? War er selbst vielleicht auch längst ein Positiver und wusste es gar nicht? Aber was nützte ihm das dann? Er ging durch einen düsteren Hausflur und folgte Pfeilen an der Wand, die ihn schließlich in einen mittelgroßen Raum führten. Rund fünfundzwanzig Stühle waren im Kreis aufgestellt, von denen gut die Hälfte schon besetzt waren. Stefan setzte sich auf einen freien Platz und guckte sich um. Was ihm sofort auffiel und ihn erstaunte, war, dass die meisten Anwesenden eher kränklich oder niedergedrückt wirkten, jedenfalls alles andere als strahlend positiv. Sah man so aus, wenn man positiv dachte?
Der Raum füllte sich, schließlich waren fast alle Stühle besetzt. Einer der anwesenden Männer - Männer waren weit in der Überzahl - übernahm die Gesprächsleitung. Er begann: "Wir sind alle hier, weil wir positiv sind. (Der übertreibt aber, dachte Stefan.) Und weil wir den Mut haben, uns mit diesem Problem auseinanderzusetzen. (Wieso Problem? wunderte sich Stefan.) Positiv zu sein, muss nicht den Tod bedeuten, aber es bedeutet geborgtes Leben, Leben auf Zeit." Jetzt hielt es Stefan nicht mehr. "Wieso das denn?" platzte er heraus. "Positiv zu sein, heißt doch gerade, voll im Leben zu stehen." Ein Raunen ging durch den Saal. Der Gesprächsleiter musterte ihn ungnädig:
"Bist du denn wirklich positiv?"
"Na ja, noch nicht richtig, aber ich will es werden."
Unverständnis, Murren, Stirnrunzeln Kopfschütteln bei den Gruppenmitgliedern.
"Du ... willst ... positiv ... werden?" fragte der Wortführer ungläubig.
"Ja, ich will lernen, positiv zu sein, positiv zu denken."
"Was, du redest vom Positiven Denken? Willst du uns etwa verarschen?" Einige Leute sahen plötzlich gar nicht mehr deprimiert, sondern recht angriffslustig aus. "Wir sind HIV-positiv, unser AIDS-Test ist "positiv", weil wir mit dem AIDS-Virus infiziert sind. Scheiss auf dein Positives Denken."
Stefan fühlte sich unsagbar beschämt. Er zog den Kopf ein, die Schultern hoch und schlich gebückt - Entschuldigungen murmelnd - aus dem Raum. Er schlich auch noch auf der Straße, saß gebückt im Auto und lief sogar noch mit gesenktem Kopf die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Erst als er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, richtete er sich auf und atmete durch. Oh je, war das peinlich gewesen! Aber über die Blamage hinaus gab ihm die Begegnung zu denken. Diese Menschen in der "Positiv-Gruppe", die hatten in der Tat ein existentielles Problem. Doch er? Litt er wirklich unter ernsthaften Problemen? Sollte er die kleineren Schwierigkeiten seines Lebens nicht einfach als gegeben hinnehmen, anstatt sich über sie aufzuregen und große Anstrengungen zu ihrer Veränderung zu unternehmen?
Aber die Relativierung des eigenen Ungemachs durch Vergleich mit anderen Menschen, denen es viel schlechter geht, ist selten von langer Dauer. Denn man vergleicht sich lieber mit solchen, denen es besser geht, und fragt sich, warum es einem selbst nicht genausogut geht. So auch Stefan. Zwei Tage ruhte sein Positiv-Programm, und es dauerte noch ein paar Tage länger, bis er sich wieder an Anzeigen herantraute. Aber am nächsten Wochenende kaufte er sich wieder den "Markt". Und diesmal lief es ganz anders. Er schlug die Zeitung auf und sah auf den ersten Blick diese Annonce. "Gemeinsam positiv denken in der Gruppe. Alle Gutwilligen willkommen. Nächstes Treffen Sonntag 17 Uhr, Heibachstraße 6. Telefon 417896."
Wenn das keine glückliche Fügung war. Oder sogar ein Wink von ganz oben? Und diese Anzeige war nun wirklich eindeutig. Trotzdem, nach den schlechten bisherigen Erfahrungen wollte er auf Nummer sicher gehen. Und so wählte er sofort die angegebene Telefon-Nummer.
"Schmidt-Schmitz" klang es aus der Muschel, laut und kräftig.
"Hier Stefan Glanz, ich möchte gerne positive gemeinsame Gruppen-Gedanken denken", verhaspelte sich Stefan.
"Ausgezeichnet. Da sind Sie bei uns richtig."
"Ich bin aber noch Anfänger, ich meine in der Positivität."
"Ausgezeichnet. Dann haben Sie wenigstens noch nichts Falsches gelernt. Es gibt ja so viele Irrwege beim Positiven Denken."
Stefan war beeindruckt von Herrn Schmidt-Schmitz. Der redete so fest und zuversichtlich. Er stellte sich ihn als einen großgewachsenen Athleten vor, mit markantem Kinn und zwingendem Blick.
"Sie kommen also Sonntag", sagte Schmidt-Schmitz mehr anordnend als fragend.
"Ausgezeichnet", erwiderte Stefan etwas unpassend. Aber dieses "Ausgezeichnet" steckte einfach an. Vielleicht sollte er sich das auch angewöhnen.
7 ES GEHT MIR JEDEN TAG IMMER BESSER
Am Sonntag fuhr Stefan zur Heibachstraße. Die Gegend war viel vornehmer, und vor allem das Jugendstil-Haus - fast eine kleine Villa - gefiel ihm viel besser als das "Haus der Kirche". Wie er später erfuhr, traf man sich abwechselnd in den Privatwohnungen der Gruppenmitglieder. Mit einem guten Gefühl klingelte Stefan - und doch wartete schon die erste Enttäuschung auf ihn. Ein kleines Männchen mit viel zu großer Nickelbrille und Fliege öffnete die Tür. "Schmidt-Schmitz", stellte es sich vor. Ja, das war diese kräftige Stimme, aber das Übrige stimmte so gar nicht mit Stefans Erwartungen überein. Doch sagte er sich: Wenn dieser kleine Kerl mit Positivem Denken ein solches Selbstbewusstsein erreicht hat, dann beweist das doch viel klarer die Wirkung der Methode, als wenn er ein breitschultriger Modellathlet wäre. Also ausgezeichnet!
Nach und nach trudelten insgesamt zwölf Gruppenmitglieder bzw. -mitgliederinnen ein. Hier waren die Frauen in der Überzahl, 7 : 5. Dennoch führte ein Mann das - positive - Wort, und zwar kein anderer als Schmidt-Schmitz ("bitte mit dt und tz"). "Beginnen wir wie immer mit unserem Grund-Motto." Alle fassten sich bei den Händen und sagten: "Es geht mir mit jedem Tag in jeder Beziehung immer besser und besser." Alle außer Stefan. Denn der war verunsichert. "In jeder Beziehung?" Wieviele Beziehungen hatten diese Leute denn? War er etwa doch in einer Gruppensex-Runde gelandet? Ihm würde es durchaus genügen, eine Beziehung, am liebsten zu Nicole, zu haben, in der es ihm immer besser ginge. Aber diesmal würde er sofort nachfragen, um Missverständnisse gleich auszuräumen:
"Was heißt denn das, in jeder Beziehung? Sind Sie alle polygam?"
"Aha", trumpfte einer der Männer auf. "Ich habe es ja immer gesagt: Das Wort 'Beziehung' ist ungünstig, nämlich missverständlich.