GENAU INS GLÜCK - Oder knapp daneben. Bernhard Bohnke
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Trotzdem war Stefan nicht unzufrieden. Es war immerhin ein Anfang. Der Tag war mit seinen ersten Ausflügen ins Land des Lächelns erstaunlich schnell vergangen. Im Bett versuchte er, vor dem Einschlafen seine Mundwinkel in eine stabile Lächelposition zu bringen, vielleicht würden sie sich über Nacht in die neue Haltung einliegen.
Um so größer war die Enttäuschung am nächsten Morgen. Die Mundwinkel schienen durch die gestrige Anstrengung völlig abgeschlafft, jedenfalls hingen sie tiefer runter als je zuvor. Ich sehe ja aus wie die Merkel, stöhnte Stefan auf. Kurz ging ihm durch den Kopf, ob er für ein Mund-Lifting zum Schönheitschirurgen gehen sollte, aber das wäre natürlich absurd.
Dennoch, um zum Erfolg zu kommen, durfte er auch vor etwas drastischen Methoden nicht zurückschrecken. Denn wie schrieb der Tiger-Autor: "Wenn der Mund nach oben zeigt, dann zeigt auch der Geist nach oben." Heute war Sonntag, und er hatte nichts Besonderes vor, also war die Gelegenheit günstig. Er ging zum Schreibtisch und holte sich Tesafilm, breit und extra stark. Damit klebte er die störrischen Lippenwinkel nach oben. Nach einer Stunde war er so neugierig, dass er es nicht mehr aushielt. Schnell zog er die Klebstreifen ab und - welche Genugtuung! Die Mundwinkel hatten sich erhoben, strebten aufwärts.
Nun war es an der Zeit, den zweiten Schritt des Tiger-Lächeln- Programms zu beginnen, und der hieß: "Zähne zeigen". Denn für ein überzeugendes, offenes Lächeln genügten keine erigierten Lippen, sondern man musste auch den Blick in das Innere des Mundes freigeben, zumindest den Blick auf die Zähne. Doch als Stefan erwartungsvoll vor dem Spiegel posierte, bekam er den Mund nicht auf. Von einer rätselhaften Scham ergriffen, zierte und genierte er sich, zu peinlich war ihm die eigene Zähnebschau. Was blieb da zu tun?
Stefan beschloss, seinen Mund zu überlisten: Ich werde mir bzw. ihm einen Witz erzählen. Vielleicht muss ich bzw. er dann spontan lachen und öffnete sich auf diese Weise. Also los: "Ein Skelett geht zum Zahnarzt. Sagt der Zahnarzt: 'Ihre Zähne sind in Ordnung, aber Ihr Zahnfleisch … .''' Gespannt wartete Stefan auf eine Reaktion, aber nichts tat sich. Kein Lachen, seine Zähne wollten sich nicht zeigen. Vielleicht mochten sie keine Zahnarzt-
witze. Oder sie kannten den schon.
Als er über eine Lösung nachgrübelte, fiel ihm der alte Kalauer ein: "Zähne sind wie Sterne. Abends kommen sie raus." Womöglich sollte er wirklich abends, bei Dunkelheit weiterüben. Niemand wird gerne bei hellem Licht ständig beobachtet, das galt offensichtlich auch für seine Zähne. Und ohnehin hatte er jetzt eine Entspannungsphase verdient. Ja, lächeln zu lernen war richtige Arbeit.
Am Abend stand Stefan also wieder vor dem Spiegel; nur ein wenig durch das Fenster eindringendes Mondlicht beleuchtete die Szene. Tatsächlich, jetzt konnte er den Mund ganz locker zu einem breiten Lächeln öffnen. Als er jedoch sein Spiegelbild sah, erschrak er so, dass der Mund sofort wieder zuklappte. In dem gespenstischen Halbdunkel sah er aus wie ein Wolf, der die Zähne fletschte. Oder sogar wie ein Vampir, der seine Beißerchen bleckte. Schauderhaft!
Aber er würde nicht aufgeben. Denn der "Tiger" versicherte: Wer lächelt, der erobert die Welt. - Und die Eroberung der Welt war allemal eine Mühe wert, die Eroberung von Nicole natürlich erst recht. So legte er vor dem Zu-Bett-Gehen nochmal die Klebstreifen auf, und diesmal fixierte er den geöffneten Mund. Wenn er das "Tesa-Lifting" über Nacht einwirken ließ, würde er hoffentlich schon morgen das Ziel des chronischen zahnfreien Lächelns erreicht haben.
Als er am nächsten Morgen wieder an seinem derzeitigen Lieblingsplatz, vor dem großen Spiegel stand, sah er sofort, dass das Mundfixing Erfolg gehabt hatte. Die "Tesa-Maske" hatte ihm zwar ein etwas maskenhaftes, gefrorenes Lächeln beschert, aber immerhin ein dauerhaftes und offenherziges, mit freiem Blick auf seine Goldkronen. Und es zeigte sich: Das Buch hatte recht. Wenn man lächelt, denkt man auch positiv. Jedenfalls war Stefan in freudiger Erwartung, wie die Kollegen und vor allem Kolleginnen im Büro auf seine neue Ausstrahlung reagieren würden. Ob sie mich direkt darauf ansprechen? überlegte er.
- Mann Stefan, bist du verprügelt worden?
- Was soll das denn heißen?!
- Dein Mund ist so schief und steht offen, als ob du eine aufs Maul bekommen hättest. Hast du eine Kiefersperre?
- Typisch. Da lächelt man dir mal freundlich zu, und das ist der Dank.
- Wenn du so aussiehst, wenn du freundlich bist, ist es mir lieber, du bist unfreundlich zu mir.
Stefan zuckte mit den Schultern. Dieser ungehobelte Mensch war eben für den Wert eines Lächelns nicht empfänglich. Es war sein Zimmerkollege Alfred, ein großschnäbeliger Yuppie-Typ. Nicht umsonst wurde er meistens Alf genannt, weil seine unverblümte Direktheit an den bekannten TV-Außerirdischen erinnerte. Gutwillige nannten ihn Alf, andere sprachen hinter seinem Rücken von "Alfred, das Ekel".
Stefan ging zur Sekretärin des Gruppenleiters rüber. Sie war die "Büro-Mutter", eine Seele von Mensch, und würde bestimmt anders auf sein nettes Lächeln reagieren. In der Tat.
"Tut es sehr weh?" fragte sie mitfühlend.
"Was denn bitte?" fragte Stefan leicht gereizt zurück.
"Sie haben doch sicher Zahnschmerzen."
Jetzt reichte es ihm. Er ließ sie stehen und ging an seine Arbeit. Beim Mittagessen saß er in der Kantine Kollegin Frau Redlich gegenüber, einer ausgesprochenen Zicke mit zottligem roten Haar, die sich dauernd über alles mögliche und unmögliche beschwerte. Sie guckte ihn so komisch an, weshalb er angriffslustig zurückguckte, nein zurückstarrte, länger als eigentlich nötig. Da zuckte sie zusammen und versenkte den Kopf in ihre Suppe, bis zum Nachtisch guckte sie nicht mehr hoch.
Kurz nach dem Essen wurde Stefan zum Gruppenleiter gerufen. Der hatte wegen seiner auffallend künstlichen Dauerwelle den Spitznamen "Locke" weg oder - da er promoviert war - "Dr. Locke". Locke kam direkt zur Sache.
- Frau Redlich hat sich beschwert. Sie hätten sie das ganze Essen lang anzüglich angegrinst, ich zitiere: "wie ein richtiger Chauvi".
- Ich weiß nicht, was in Frau Redlich gefahren ist. Dabei habe ich ihr nur einmal zugelächelt.
- Aber Sie grinsen ja immer noch so merkwürdig. Machen Sie den Mund doch mal zu.
Stefan versuchte es, er versuchte es wirklich. Doch hatte er gestern den Mund nur mit Mühe aufbekommen, bekam er ihn heute einfach nicht mehr zu.
"Ich habe Zug gekriegt", stieß er hervor. "Deswegen ist der Mund verzogen. Das ist wie ein schiefer Hals. Nur bei mir ist eben der Mund schief."
Der Gruppenführer runzelte die Stirn. Er schien nicht sehr überzeugt von Stefans Antwort. Doch dann nahm sein Gesicht einen eher wohlwollenden Ausdruck an.
"Herr Glanz, Sie sind ja nicht gerade als Chauvinist hier im Hause bekannt. Und die Frau Redlich ... Sie wissen schon. Aber wir sind von oben angehalten, schon auf einen Verdacht von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu reagieren. Nun gehen Sie. Und sehen Sie zu, dass Sie Ihren Mund möglichst schnell wieder zu bekommen. Notfalls nehmen Sie frei und besuchen den Zahnarzt. Und setzen Sie sich bitte, bis Sie geheilt sind, nicht Frau Redlich gegenüber."
Locke seufzte, und Stefan war erleichtert, abtreten zu können. Und er fühlte sich noch erleichterter, als er mit seinem missverständlichen Gesicht wieder zu Hause in Sicherheit war. Eins stand für ihn fest: Mit der Lächel-Methode lerne ich das Positive Denken nie. Ich bin dem Tiger auf den Leim gegangen.
Es funktionierte