Auferstanden aus Ruinen. Florian Lettre
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„Es wäre gut, wenn wir einmal ein Gedicht von Heine lesen.“ Florian schlägt das Buch mit den Gedichten auf. Er hat sich ein Zeichen gemacht. „Wer möchte das Gedicht vorlesen?“ keiner meldet sich. Er zeigt auf einen Schüler und bittet ihn nach vorn zu kommen. Der Schüler erhebt sich langsam und geht langsam nach vorn. Er nimmt das Buch. Er ist unsicher.
„Die schlesischen Weber.“ Er macht eine Pause und spricht dann weiter.
„Im düsteren Auge keine Träne. Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch – wir weben, wir weben!“
„Halt!“ sagt Florian. „Was ist das für ein Bild, das Heine hier entwirft?“ Ein Mädchen meldet sich.
„Er zeigt die schlesischen Weber in ihrer verzweifelten Situation. Sie werden ausgebeutet. Sie müssen schwer arbeiten und bekommen nur wenig Lohn.“
„Heine hat das Gedicht 1844 geschrieben“, sagt Florian. Er will helfen, das Gedicht in den historischen Rahmen einzuordnen. „Was war das für eine historische Situation?“
„1848 war in Deutschland Revolution“, sagt ein Junge.
„Was war das für eine Revolution? Eine Revolution der Arbeiter oder des Bürgertums?“ Die Schüler überlegen.
„Die erste Arbeiterrevolution war später“, sagt ein Junge.
„Wann war die?“
„Die Oktoberrevolution 1917“, sagt ein Mädchen.
„War das die erste Arbeiterrevolution?“ fragt Florian.
„In Paris, die Pariser Commune. Die war früher.“ Es haben sich jetzt schon mehrere Schüler beteiligt. Florian ist zufrieden. Hoffentlich geht es so weiter.
„Also 1848. Was war das für eine Revolution?“
„Eine bürgerliche.“
„War sie erfolgreich?“
„Nein.“
„Sind die Weber Arbeiter oder gehören sie zum Bürgertum?“
„Sie sind Arbeiter.“
„Was ist das für ein Konflikt, den Heine hier darstellt?“
„Zwischen Arbeitern und Unternehmern.“
„Richtig. Wie ist also Heines Gedicht historisch einzuordnen?“
„Das Bürgertum hatte noch nicht die Macht und trotzdem sieht Heine schon den Konflikt, den das Bürgertum in sich trägt. Der dann später zur Oktoberrevolution geführt hat. Heine ist seiner Zeit voraus.“ Das Mädchen, das Florian als erstes angesprochen hatte, hat das gesagt.
„Das ist sehr klug, was du da gesagt hast“ Das Mädchen wird ganz rot und sieht auf ihre Tischplatte.
„Ja, ja. Maria ist sehr klug“, sagt ein Junge und hebt und senkt langsam den Kopf. Florian muss lachen. Die Schüler fangen auch an zu lachen. Florian sagt nichts mehr zu dem Mädchen. Er weiß nicht, wie die Schüler zueinander stehen.
„Heine lebte von 1797 bis 1856. Er ist also fast sechzig Jahre alt geworden. Als er das Gedicht schrieb, ging er auf die fünfzig zu. Er lebte in Paris. Drei Jahre später begann die Matratzengruft.“
„Hat er Karl Marx gekannt?“ fragt ein Mädchen. Florian möchte das Mädchen umarmen. Diese Frage passt genau zu diesem Gedicht. Er sieht die Schüler an.
„Hat er Marx gekannt?“ Er sieht das kluge Mädchen an.
„Hat er ihn gekannt?“ Das Mädchen schüttelt den Kopf.
„Sie werden es uns gleich sagen.“
„Die beiden haben sich gekannt. Das Gedicht wurde im „Vorwärts“ veröffentlicht, den Marx herausgab. Es wurde als Flugblatt in den Gebieten des Weberaufstandes verteilt. Wie geht das Gedicht weiter?“
Der Schüler stand immer noch vorn. Er fuhr fort:
„Ein Fluch dem Gotte zu dem wir gebeten in Winterkälte und Hungersnöten; wir haben vergebens gehofft und geharrt, er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – wir weben, wir weben!“
Ein Mädchen meldet sich.
„Das ist der erste Fluch. Heine hatte drei Flüche angekündigt. Die Weber verfluchen Gott.“
„Was meint ihr dazu?“ Nach einer Pause sagt das gleiche Mädchen.
„Mich wundert das nicht. Die Weber haben gebetet und sind enttäuscht worden. Es gibt ja auch keinen Gott.“ Florian schaut etwas erschrocken in die Runde.
„Religion ist in unserem Staat frei. Einige von ihnen werden vielleicht religiös sein. Die sollen damit nicht verletzt werden.“
„Was richtig ist, muss richtig bleiben“, sagt das gleiche Mädchen. „Gott gibt es nicht.“ Florian möchte keine Diskussion über Gott. Er will wieder zu dem Gedicht.
„Gott zu verfluchen – das war damals sehr gewagt. Heine ist in dieser Beziehung kompromisslos. Wer wird noch verflucht?“ Der Junge, der weiter vorn steht, fährt fort.
„Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, den unser Elend nicht konnte erweichen, der den letzten Groschen von uns erpresst, und uns wie Hunde erschießen lässt – wir weben, wir weben.“ Wieder meldet sich das Mädchen, das nicht an Gott glaubt.
„Das ist der zweite Fluch. Gegen den König.“
„War das gefährlich, was Heine hier sagt?“
„Das war sehr gefährlich. Und den König als König der Reichen zu bezeichnen. Heine wusste Bescheid über diese Gesellschaft.“ Florian winkt dem Schüler weiterzulesen.
„Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, und Fäulnis und Moder den Wurm erquickt – wir weben, wir weben.“ Florian sieht die Schüler an.
„Der dritte Fluch. Auf das Vaterland. Das ist wohl das Schlimmste, was er machen konnte. Das Vaterland war heilig. Das Vaterland zu verraten war sehr schlimm. Ganz schön mutig. Er war in Paris. Da konnte er das.“ Wieder dieses Mädchen, das nicht an Gott glaubte.
„War Heine der einzige Dichter, der so etwas sagte?“ fragte Florian. Es wurde nachgedacht.
„Wie ist es mit Goethe und Schiller? Leben die noch?“
„Beide waren tot“, sagt ein Junge. „Goethe starb 1833. Schiller weiß ich nicht.“
„Schiller starb schon 1805“, hilft Florian. „Hätten die beiden so etwas geschrieben?“
Es melden sich mehrere Schüler.
„Goethe auf keinen Fall“, sagt eine