Christmas Eve. Angelika Nickel
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„Die Straßen sind unbefahrbar, Emma. Vergiss es. Sie muss, ob sie will oder nicht, noch weiter in unserem Dorf bleiben.“
„Aber das heißt doch nicht, dass Laura unweigerlich auch in dem Haus wohnen bleiben muss. Sie könnte doch woanders übernachten.“
„Und wo, Emma? Seit Jahren gibt es keine zu vermietenden Zimmer. Selbst das alte Hotel steht schon lange leer.“
„Sie könnte hier bei uns schlafen. Oben bei Rufus. Ich kann eine Liege vom Dachboden holen.“
„Nein, danke, Emma. Lieb gemeint, aber ich bleibe in dem Haus. So leicht vertreibt man mich nicht“, lehnte Laura, Emmas Angebot ab.
„Das Haus, es steht schon sehr lange leer.“ Sam kratzte sich am Kopf. „Wundert mich ohnehin, dass man es Ihnen zum Wohnen angeboten hat. Muss am Wetter gelegen haben, anders kann ich mir das sonst, nicht erklären.“
„Ich weiß nicht, ob es tatsächlich leer steht. Irgendjemand kommt, um es zu pflegen. Als ich gestern Abend in das Haus kam, war es, als wäre es gerade erst vor Kurzem verlassen worden. Alles war sauber und roch wie frisch geputzt.“ Laura bedankte sich, als Emma auch ihr nochmals Kaffee nachschenkte.
„Das ist auch so etwas Eigentümliches. Das Haus, es verwildert nicht. Gleich, wie unsere Witterung ist, keine Farbe blättert von der Fassade. Nichts, das darauf hinweist, wie alt das Haus schon ist. Es sieht aus, als wäre es gerade erst erbaut worden. Dabei ist es schon fast“, Sam rechnete nach, „weit über siebzig Jahre alt.“
„Es soll erbaut worden sein, kurz, bevor es zum Spukhaus wurde“, flüsterte Emma, so leise, dass Laura sie gerade noch verstehen konnte.
„Fast siebzig Jahre? Ohne, dass es verwittert. Wie ist das möglich?“, wunderte sich Laura.
„Ja, wie ist das möglich?“ Sam sah Laura nachdenklich an. „Diese Frage haben sich schon viele gestellt. Und viele von ihnen sind gestorben, ohne jemals die Antwort darauf, gefunden zu haben.“
„Jetzt übertreib‘ aber nicht, Sam!“ Emmas Augen blitzten.
„Was denn, Emma? Ist es nicht so? Auch unsere Eltern sind gestorben, ohne jemals hinter das Geheimnis des Hauses, gekommen zu sein.“
„Dafür sollen sie aber die Leute gekannt haben, die mit dem Haus und seiner Geschichte zu tun hatten.“
„Und was hat ihnen das genutzt?“ Sam sah Emma beinahe vorwurfsvoll an.
„Nichts hat es ihnen genutzt. Und Laura wird es auch nichts nützen, diese Gerüchte zu hören. Warum kann diese alte Geschichte nur nicht endlich einmal, für immer ruhen, Sam?“
„Solange es das Haus gibt, Emma, wird das Gerede darum, niemals aufhören. Auch, wenn du es nicht wahrhaben willst“, er rührte mit dem Löffel in seinem Kaffee, „das Haus ist unzerstörbar, und das weißt du auch.“
„Sam, ich weiß doch auch nur das, was sich hier jeder erzählt. Ich habe noch niemals einen Fuß in das Haus gesetzt. Auch nicht bei Tage. Ich brauche keinen Geist, der sich an meine Fersen heftet und mir womöglich überallhin folgt.“
„Ach, Emma, das ist doch aber nun wirklich nur Geisterlatein. Eine Geschichte, die sich die Alten damals ausgedacht haben, um ihre Kinder von dem Haus fernzuhalten. Mehr ist da nicht dran.“ Er sah Laura an. Kopfschüttelnd, sagte er: „Dass Sie das Haus haben verlassen können … Dass Sie die Nacht unbeschadet überstanden haben, das grenzt an ein Wunder.“ Wieder kratzte er sich am Kopf. Nachdenklich betrachtete er Laura. „Es gibt eigentlich nur einen Grund, dass Ihnen nichts passiert ist.“
Erwartungsvoll war Lauras Blick auf Sams Lippen gerichtet. „Was für ein Grund könnte das sein?“, fragte sie leise, und ein Schauder, zog sich über ihren Rücken. .
„Der Tod. Sie haben den Tod in Ihrer Nähe.“
„Wie bitte?“ Laura erblasste.
„Verzeihen Sie mir die ungehörige Frage, aber kann es sein, dass vor Kurzem jemand in Ihrer Umgebung gestorben ist? Jemand, der Ihnen wichtig war?“
Laura nickte. „Ja. Mein Verlobter ist gestorben.“ Sie sah von Sam zu Emma, und erzählte ihnen von Frank und dessen schrecklichem Tod.
9 Fliegen
Kurz, nachdem Laura das Haus verlassen hatte, bewegte sich erneut die Gardine.
Leises Stöhnen drang durch Lauras Zimmer.
Die Tür öffnete sich, ohne, dass eine Hand den Knauf, zum Öffnen berührte. Sacht schwang sie auf. Das Stöhnen schlich hinaus auf den Flur.
Die Fensterriegel stoben hoch und die Fenster schnellten nach oben. Kalte Luft wehte herein.
Auch in Lauras Zimmer schob sich das Fenster hoch. Langsamer als die im Flur, und dennoch, ohne, dass menschliche Hände dazu beigetragen hätten.
Die kalte Luft, die von der Diele hereinzog, mischte sich mit der, in Lauras Zimmer. Wie eisiger Wind zog sie durch den Raum.
Das Buch lag noch da, wie in der Nacht, dort in Lauras Zimmer, auf dem niederen Nachttisch. Der Windzug blätterte die Seiten um. Ließ sie auf und nieder wehen, solange, bis die Seiten erreicht waren, von denen anscheinend jemand wollte, dass sie offen dargelegt werden und auf sich aufmerksam machen sollten.
Erneutes Stöhnen quälte sich durch das einsame Haus. Dieses Mal nur viel lauter, als die Male zuvor.
Eine unsichtbare Hand strich über eine der Buchseiten. Mit dem Finger fuhr sie liebevoll den Namen nach, der in schwarzer Tinte, dort geschrieben stand. „Mary“, raunte es sehnsuchtsvoll, und der Name färbte sich um, in Blutrot. Die wenigen Buchstaben leuchteten auf, als pulsierte ein schlagendes Herz in ihnen.
„Mary … Bald …“, hallte es durch das Zimmer. Gequält hörte es sich an, als verzehrte sich die Stimme, nach dem Namen der Frau, der in dem Buche geschrieben stand.
Die Gardine wehte, wie aufgeregt hin und her, und verfing sich am Fensterhaken. Unsichtbare Finger machten sie frei, und erneut wehte sie im klirrendkalten Dezemberwind hin und her.
„Mary, Christmas Eve …, so nahe ist es … Oh, Mary …“
Das Raunen ging über in Wehklagen, die Stimme verlor sich in schmerzlicher Sehnsucht. „Mary …, Christmas Eve …“
Dieses Mal erzitterte die Decke; und auf dem Dachboden rumorte es plötzlich. Der Unsichtbare hob den Kopf und lauschte. „Hörst du es, Mary? Sie fühlen es auch. Der Dachboden, er beginnt zu leben. Sie alle warten auf deine Rückkehr. Endlich, nach so vielen Jahren, wird es bald soweit sein.“
Das Polster des Sessels, nahe dem Fenster, drückte sich herunter. Jemand hatte sich in diesen hineingesetzt. Doch es war niemand zu sehen; nur leises Atmen kam aus der Richtung des Sessels.
Das Tischchen neben dem Sessel bewegte sich. Die Falten der Spitzendecke wurden glatt gestrichen. Erneut gab das Polster des Sessels nach. Sein unsichtbarer Gast hatte sie wieder