Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde. Harald Hartmann

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Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde - Harald Hartmann

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Augen der Anwesenden im Raum umher. Mal verstärkten sich die Knattertöne bedrohlich, dann schwächten sie sich wieder ab. Das ganze war aber nur so eine Art Probelauf zur Einstimmung. Er hatte nämlich einen Zwei-Stufen-Plan entwickelt, was eine beachtliche Leistung war in der Kürze der Zeit. Zuerst sollte das kleine Erschrecken kommen und danach das große. Die erste Stufe hatte er soeben geschafft. Jetzt kam die zweite.

      Er wandte sich der Gruppe zu und nahm sich mit dem Messgerät einen nach dem anderen vor. Alle bekamen es mit der Angst. Die Spannung wurde so dicht, dass selbst die von den Stirnen hinunter tropfenden Schweißperlen sie nicht erweichen konnten und wirkungslos von ihr abperlten. Es knatterte bei jedem ein wenig, aber als er sich dem iranischen Präsidenten näherte, ertönte ein gefährlich lautes Hochgeschwindigkeitsknattern, und die Nadel spielte regelrecht verrückt. Schneller als man es von den meist übergewichtigen, körperlich unbeweglichen und muskulär hoch defizitären Herrschaften erwarten konnte, hatten alle erschreckt das Weite gesucht, so weit es unter diesen Umständen eben ging. Natürlich hatte der Schrecken auch den Präsidenten erfasst, zunächst wegen des lauten Knatterns und dann wegen der Erkenntnis, plötzlich und ohne Vorwarnung ein Isolierter zu sein. Ihm wurde schlecht, und er suchte verzweifelt nach einem Stuhl, auf den er sich setzen konnte. Aber da hielten ihm alle sofort und gleichzeitig ihre offenen Handflächen mit ausgestreckten Armen abwehrend entgegen, als wären sie ein einziger Organismus und riefen ihm sehr aufgeregt zu, er sollte bleiben, wo er war, man brächte ihm einen Stuhl. Der Kanzler höchstpersönlich holte einen Stuhl und gab ihm einen kräftigen Stoß mit dem Fuß, so dass dieser quietschend über den Boden bis zu seinem Amtskollegen rutschte. Der nahm erst einmal dankend Platz, um sich über seine neue Situation klar zu werden. Es war kein guter Tag für ihn. Eben noch hatte er zuversichtlich an ein Happy End geglaubt, jetzt blickte er sorgenvoll in seine persönliche Zukunft.

      Die anderen, relativ radioaktiv Unverseuchten, zogen sich in einen Nebenraum zurück, um sich zu beraten, vergaßen aber nicht, dem Präsidenten zu sagen, er sollte auf gar keinen Fall versuchen, ihnen zu folgen. Da saß er nun allein in einem fremden Land, abgeschnitten von der Außenwelt und wusste nicht, wie ihm geschah. Völlig unschuldig war er zu einem Aussätzigen geworden. Die Schnelligkeit und der wache Instinkt, mit dem das Rudel reagiert und ihn aus der Gemeinschaft geworfen hatte, machte ihm deutlich, wie knapp die Menschen mit ihrer ganzen Kultur erst von dem Niveau ihrer genetischen Wildheit entfernt waren und wie kurz der Weg zurück dorthin war. Ein ungeheures Gefühl der Einsamkeit erfasste ihn und eine grenzenlose Traurigkeit, weil er zu wissen glaubte, dass er nun zu einem einsamen Sterben verurteilt war.

      Die anderen hatten bald ihre Beratungen beendet und kamen vorsichtig in den Raum zurück. Man teilte ihm mit, dass man aus Sicherheitsgründen beschlossen hätte, einen Mindestabstand von drei Metern zu ihm einzuhalten. Es war eine Untergrenze, die auf keinen Fall überschritten werden durfte und funktionierte somit vom Prinzip her nicht anders als jede beliebige Obergrenze. Grenzen waren eben immer und überall Grenzen, und Regeln waren immer Regeln. Er sollte es aber bitte nicht persönlich nehmen, weil es eine vollkommen unpersönliche Entscheidung war. Essen und Trinken würde man ihm selbstverständlich hinüber schieben. Der Kanzler, sich seiner Stellung und damit auch seiner Pflicht bewusst, brachte sogar eigenhändig das Sauerstoffgerät in seine Nähe, zog sich dann aber schnell und halb peinlich, halb bedauernd und sich entschuldigend zurück.

      8

      Die iranische Regierung hatte unterdessen, da schon sechs Stunden nach der Verkündung ihres Ultimatums verstrichen waren und sie immer noch kein Lebenszeichen ihres Präsidenten erhalten hatten, ihre Drohung noch einmal bekräftigt, indem sie durch ihre Botschaft die Medien über ihre unveränderte Entschlossenheit in Kenntnis setzte. Wie ein hungriger Hund auf einen Knochen, so stürzten sich Presse, Rundfunk und Fernsehen auf den Köder, in Erfüllung ihrer heiligen Informationspflicht, und eine neue Welle des Erschreckens und der Hysterie schwappte dadurch hochgequirlt über das ganze Land. Mission erfüllt. Kalkulation erfolgreich.

      Die iranische Regierung hatte auch deshalb den Druck in dieser Weise erhöht, weil man es leid war, immer nur mit deutschen Politikern zu sprechen, die nichts zu sagen hatten. Sie glaubte einfach nicht diese Geschichte von radioaktiver Verseuchung, defektem Atombunker und Kommunikationsunfähigkeit, die ihr da aufgetischt wurde. Das passte nicht in ihr Bild von deutscher Ordnung, deutscher Wertarbeit und deutscher Perfektion. Diese offensichtlichen Lügen waren eine Beleidigung für ihre Intelligenz. Deshalb ließ sie vorsorglich schon einmal die erste Rakete startklar machen. Bis hierhin hatte man getan, was man tun konnte, um diese Deutschen, oder steckten am Ende doch die Amerikaner dahinter, zum Nachgeben zu bewegen. Jetzt musste man abwarten.

      Zum Glück brauchte man nicht untätig herumzusitzen und sich zu langweilen, sondern konnte die Zeit, bis es Reaktionen gab, elegant mit aufregender Unterhaltung überbrücken. Denn just zu diesem Zeitpunkt begann im Fernsehen der dritte und letzte Teil des spannenden Thrillers „Die Frau ohne Schleier“, der in den ersten beiden Folgen die gesamte Bevölkerung in seinen Bann geschlagen und sich als wahrer Straßenfeger erwiesen hatte, so wie es hierzulande vielleicht vor vierzig oder fünfzig Jahren zuletzt möglich gewesen war, als Frauen noch Halstücher trugen.

      Jeder wollte natürlich, so wie überall die Menschen auf der Welt, wissen, wer der Böse war. Und so saß die zu Hause gebliebene Regierungsmannschaft gemeinsam versammelt und Fingernägel kauend vor einem großen Bildschirm. Auf den Tischen vor ihnen standen prall gefüllte Schalen voller Pistazien, die zur Stressabfuhr durch ununterbrochenes Knabbern während der aufwühlenden Handlung dienen sollten und in dieser Hinsicht auch tatsächlich wertvolle Dienste leisteten. Fast hätte man so, in diesem paradiesischen Moment der kollektiven Entrücktheit, den Präsidenten und sein ungeklärtes Schicksal vergessen.

      Auch das Fernsehen in Deutschland, das auf allen Sendern und Kanälen die Drohung zelebrierte wie ein Drei-Sterne-Koch sein Menu, in Zeitlupe, Superzeitlupe und aus dreiundachtzig verschiedenen Kameraperspektiven, hatte mit diesem bedrohlichen News-Thriller phänomenale Einschaltquoten. Es gab für eine kurze Zeitspanne nur glückliche Fernsehdirektoren. Nun konnte man zeigen, dass man das perfekte Knowhow hatte, mit professionell richtig schmackhaft aufbereiteter Information und unter Verwendung aller Möglichkeiten einer inzwischen zur Verfügung stehenden überwirklichen Technik, die Leute nach allen Regeln der digitalen Kunst zu erschrecken oder auch einfach nur digital ohne jede Kunst. Einige Moderatoren bewiesen auf diesem Gebiet ein überragendes Talent, das man auf keinen Fall in Vergessenheit geraten lassen sollte. Nicht genug damit erschienen wie auf Knopfdruck überall Experten, so als würden die Sendeanstalten sie ständig neu gebären oder würden sie in Kühlräumen bis zu ihrer nächsten Verwendung im Standby-Modus vorhalten. Wohin man auch schaltete, überall saßen eiligst zusammengetrommelte Experten aller Art und verschiedenster Provenienz beisammen, Journalisten, Politiker, Professoren, Künstler, allerdings komischerweise keine Sportler, und demonstrierten ihre hochentwickelte Fertigkeit, sorgenvolle Mienen aufzusetzen oder ihren Stimmen eine Schwingung von solcher Ernsthaftigkeit zu übertragen, dass diese unter der Last fast versanken. Man spürte förmlich ihre Lust, sich bei dieser einmaligen Gelegenheit ihrer Eitelkeit ungehemmt hingeben zu können. Wenn man darüber nachdachte, wo sie alle so schnell hergekommen waren, schlich sich auch noch eine andere Vermutung mit einem langsam zunehmenden Aha-Effekt ins Bewusstsein ein, dass nämlich diese Experten eigentlich immer zusammen saßen und tagten und tagten, auch bei Nacht und bei ganz normaler Raumtemperatur, ein ständiger Expertenrat also, der nur in Krisenzeiten für alle sichtbar gemacht und zugeschaltet wurde, damit sich seine Wirkung nicht vor der Zeit abnutzte.

      Leute, die man längst für tot gehalten hatte, erstanden wieder auf und redeten wie vom Heiligen Geist erleuchtet. Und tatsächlich war es ja auch so, wenn man nur genau hinhörte und hinsah. Expertenrunden hatten etwas Heiliges. Die ausgewiesenen Träger des Wissens und der Weisheit, die Erklärer der Welt feierten ein Hochamt im Namen der Vernunft und die Zuschauer, gleich wo, waren von einem Schauer ergriffen, einem ebenfalls heiligen.

      Dieses Land, das über viele Jahrzehnte keine Katastrophe

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