Kristallblut. Patricia Strunk
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Nachdenklich fuhr Ishira mit der Zunge die Innenflächen ihrer Zähne entlang. Möglicherweise hatten ihre Vorfahren einst tatsächlich hier gesiedelt. Vorausgesetzt, sie waren dabei den Amanori nicht in die Quere gekommen. Zwar hatten die Echsen die Menschen früher nicht angegriffen, aber sie hätten wohl kaum ein Eindringen in ihren Lebensbereich toleriert.
Beim Gedanken an die Amanori wanderte Ishiras Blick nach oben, schätzungsweise zum hundertsten Mal in den letzten Tagen – als hätte Kiresh Yaren sie mit seiner zwanghaften Beobachtung des Himmels angesteckt. Der Ausschnitt, den sie zwischen den sich im Wind wiegenden Bambusstangen sehen konnte, war wie all die Male zuvor grau und leer. Seit ihrem Aufbruch hatte sich noch kein einziger Amanori gezeigt, aber Ishira fiel es schwer zu glauben, dass die Echsen sie noch nicht entdeckt hatten.
„Eigentlich ist es ein Wunder, dass unsere Gegner uns nicht schon längst empfangen haben, so wie wir uns durch den Wald wälzen“, sprach Mebilor ihre Gedanken aus. „Eine Horde wildgewordener Umasus könnte keine auffälligere Spur hinterlassen.“
Rohin zuckte zusammen. „Wollt Ihr sagen, die Drachen könnten schon ganz in unserer Nähe sein?“
Ishira wusste, dass der junge Gelehrte sich außerhalb der Stadtmauern Inuyaras ungefähr so wohl fühlte wie ein Keiko, den man aus seiner Behausung gezerrt hatte. Sie hatte keine Ahnung, inwieweit er freiwillig hier war, um den Einsatz der von ihm entwickelten Geschütze zu koordinieren, aber sie glaubte aus einigen seiner Äußerungen herausgehört zu haben, dass der Statthalter auch auf ihn Druck ausgeübt hatte. „Sie sind jedenfalls nicht so nahe, dass ich ihre Aura wahrnehmen könnte“, beruhigte sie ihn.
Rohin entspannte sich sichtlich. Rührte sein Vertrauen in sie daher, weil sie ihm damals in Noroko geholfen hatte? Oder weil er wusste, dass die Gohari sie in der Hand hatten?
Ishira wandte sich im Sattel um, aber von ihrer Position aus konnte sie ihren Bruder, der neben dem Kutscher auf einem der Munitionswagen mitfuhr, nicht sehen. Doch sie wusste auch so, dass er Handfesseln trug und scharf bewacht wurde. Die Gohari kannten seinen Wert: Kenjin war das Pfand, um sie gefügig zu machen. Ishiras Finger schlossen sich fester um die Zügel ihrer Stute. Sie würde nicht zulassen, dass ihr kleiner Bruder von den Gohari misshandelt wurde, nur weil er das Pech hatte, sie zur Schwester zu haben. Aber ihr Plan, mit ihm zu fliehen, hatte sich bisher als undurchführbar erwiesen. Obwohl die letzte menschliche Ansiedlung bereits fünf Tagesreisen hinter ihnen lag, hatten die Gohari ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht gelockert. Keine Chance, Kenjin zu befreien. Dabei standen ihre Aussichten, heil aus den Bergen herauszukommen, schon jetzt alles andere als gut und mit jedem Schritt, den sie noch tiefer in die Wildnis vordrangen, sanken sie weiter. Langsam lief ihr die Zeit davon.
Dachte Ishira allerdings daran, was sie erwartete, falls ihr Plan fehlschlug, war es vielleicht besser, es gar nicht erst zu versuchen. Aber selbst im Falle einer erfolgreichen Flucht würden ihre Schwierigkeiten danach erst richtig anfangen. Nach Hause war es zu Fuß eine Reise von vielen Tagen. Ishira war nicht einmal sicher, ob sie den Weg nach Soshime finden würde. Es wäre schon schwierig genug gewesen, wenn sie sich auf den Handelsstraßen hätten fortbewegen können, aber natürlich kam das nicht infrage. Sie würden sich ständig verbergen müssen, weil die Gohari sie mit Sicherheit verfolgen würden. Das hieß, Kenjin und sie würden vielleicht einen ganzen Mondlauf benötigen, um ihr Heimatdorf zu erreichen.
Wovon sollten sie sich unterwegs ernähren? Vom Jagen oder Fallenstellen hatten weder Kenjin noch sie Ahnung und allzu viele essbare Pflanzen kannte sie auch nicht. Den Minensiedlungen konnten sie sich nicht nähern ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Die Kireshi in der Garnison würden ohne zu zögern die Hunde auf sie hetzen. Ein Schauder lief Ishiras Schultern entlang, als sie an die riesigen Bluthunde dachte. Wäre Kiresh Yaren nicht gewesen, hätten einer von ihnen ihr damals in Ebosagi den Garaus gemacht. Doch selbst wenn Kenjin und sie es allen Widrigkeiten zum Trotz bis nach Hause schafften: Was würde sie dort erwarten? Würde Kanhiro überhaupt noch da sein?
Der Gedanke an ihren Freund weckte die leise Traurigkeit, die in den vergangenen Wochen ein vertrauter Begleiter geworden war. Noch nie war sie so weit und so lange von ihm getrennt gewesen oder war es so ungewiss gewesen, wann sie ihn wiedersehen würde. Seit Kiresh Yaren sie vor beinahe zwei Mondläufen ins goharische Feldlager geschleppt hatte, hatte sie jeden Tag die Ankunft eines Boten gefürchtet, der die Nachricht überbrachte, dass die Inagiri sich erhoben hatten, und die Kireshi zu den Waffen rief. Den Ahnen sei Dank, war kein Bote gekommen und die Armee war wie geplant ausgerückt. Obwohl diese Tatsache Ishira hätte beruhigen sollen, war dies nur zum Teil der Fall. Sie zweifelte nicht daran, dass es Kanhiro gelungen war, die Dorfbewohner von seinen Plänen zu überzeugen. Wahrscheinlicher war, dass er von dem Feldzug erfahren hatte und deshalb abwartete. Ishira biss sich auf die Lippen. Nichts konnte den Sturm noch verhindern. Nur wo würde sie sein, wenn er losbrach?
Mebilor beugte sich zu ihr herüber, so dass die Krempe seines breitrandigen Strohhuts, den er sich zum Schutz gegen die Sonne auf das schüttere Haupthaar gesetzt hatte, beinahe gegen ihre Stirn stieß. „So tief in Gedanken? Machst du dir Sorgen um deinen Bruder?“
Ishira fuhr zusammen. Sie musste sich besser in der Gewalt haben! Wenn sich ihre Gefühle so deutlich in ihrem Gesicht spiegelten, konnte sie ihre Pläne gleich laut verkünden.
„Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, Yaren und ich könnten die Kommandanten dazu bewegen, deinem Bruder ein wenig mehr Bewegungsfreiheit zu gewähren“, fuhr der Heiler leise fort, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Aber ich war wohl ein wenig zu blauäugig. Insbesondere der Bashohon hat sich dagegen ausgesprochen, den Druck auf dich zu mindern. Er traut dir nicht weiter, als er dich werfen kann, um seine eigenen Worte zu bemühen. Helon ist ein wenig zugänglicher, aber letztlich ist er für die Sicherheit all dieser Männer hier verantwortlich. Er muss zuerst an ihr Wohlergehen denken.“
Ishira erwiderte seinen Blick überrascht. Er und Kiresh Yaren hatten sich für ihren Bruder eingesetzt? Dann war vielleicht doch noch nicht alles verloren.
Der winzige Hoffnungsschimmer erlosch jedoch so schnell, wie er aufgeflackert war. Auch wenn die beiden Gohari einen gewissen Einfluss besaßen, glaubte Ishira nicht daran, dass die Heerführer ihre Meinung ändern würden. Sie selbst würde jemandem, von dem sie genau wusste, dass er ihr lediglich aus Zwang half, auch nicht mehr vertrauen als der Bashohon.
Die Reiter vor ihr zügelten ihre Pferde. Als Ishira den Hals reckte, um an den Heerführern vorbei zu spähen, sah sie ihren Begleiter mit den beiden anderen Kundschaftern auf dem Weg warten. Irgendwo plätscherte es leise. In der Nähe musste sich ein Wasserlauf befinden.
„Von jetzt an wird das Gelände schwieriger“, ließ der Kiresh die Befehlshaber wissen, obwohl es dieses Hinweises kaum bedurft hätte. Jeder konnte sehen, dass der Bambuswald einige Pferdelängen vor ihnen in Zedernwald überging. Auch wenn die Bäume nicht besonders eng beisammen standen, war der Boden dicht mit Farnen bewachsen, die streckenweise mannshoch wucherten. „Weiter vorn schneidet einen Fluss unseren Weg“, fuhr Kiresh Yaren fort und wies hinter sich. „Das Wasser ist zwar nicht tief, aber das Ufer ziemlich abschüssig. Wir werden für die Gespanne Rampen bauen müssen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Können wir das Gewässer nicht an einer anderen Stelle überqueren?“ erkundigte sich der Shohon.
Ishiras Begleiter schüttelte den Kopf. „Im Westen endet das Seitental nach wenigen Pferdelängen an einem Wasserfall und im Osten ist das Gelände zu unwegsam.“
„Dann werden wir wohl zunächst einmal Bäume fällen müssen.“ Der Erste Heerführer gab seinem Adjutanten einen Wink. „Richte dem Kouran der Raikari aus, dass er ein paar von seinen Männern mit Kiresh Yaren vorausschicken möge. Sie sollen Äxte mitbringen.“ Der