Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold

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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

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Vater so hart sein konnte. So kannte ich ihn gar nicht. Hatte er in seinem Eifer überhaupt richtig zugehört? Spürte er nicht, was mir dieses Schaukelpferd bedeutete? Gerade jetzt, in dieser neuen, unbekannten Umgebung – etwas Vertrautes, etwas, das allein mir gehörte.

      „Weißt du, Vater hat jetzt keine Zeit“, erklärte mir die Patin. Ich verstand nicht. Er hätte das Gampiross doch nur über den Zaun heben müssen. Doch drei Schritte vor meiner Nase, die ich durch den Maschenzaun steckte, trug er es vorüber.

      Diese erste Erinnerung an meinen Vater hat meine spätere Beziehung zu ihm nicht geprägt. Eigentlich, so scheint mir, ist dies die einzige negative Erinnerung. Freilich, Vater war wortkarg, manchmal etwas mürrisch – zärtlich? Nein, kaum, aber nie bös, nie, dass man sich vor ihm hätte fürchten müssen. Fröhlich kannte ich ihn eigentlich nur später, wenn er etwa mit seinen Kameraden vom Straßenbahner Männerchor zusammen war, oder in den Ferien, wenn wir ein paar Tage mit andern Mitgliedern vom Touristenverein „Die Naturfreunde“ in der Hütte auf der Schwägalp am Fuße des Säntis oder auf der Amdener Höhe verbrachten. Aber die Korrektheit, ja, das war er in Person. Er verachtete Menschen, die sich nicht im Zaum halten konnten, die über die Hutschnur tranken, Öl am Hut hatten, wie die Mutter zu umschreiben pflegte. An heißen Sommertagen auf Ausflügen, wenn wir einkehrten und wir Kinder – Höhepunkte der Familienausflüge – einen Sirup und einen jener klebrigen Nussgipfel bekamen, dann trank er einen Becher Dunkles. Helles Bier war damals allgemein nicht gefragt. Wer ein Helles trank, galt schon beinahe als ein Snob.

      Genau datierbare Erinnerungen an die frühesten Jahre in meinem Leben gibt es nicht. Eine Jahreszahl. 1933. Vater besaß ein Radio, eine schwarze, viereckige Kiste mit zwei großen drehbaren Knöpfen. Selber gebastelt. Wenn er vom Dienst nach Hause kam, stülpte er sich den einen der zwei Kopfhörer über die Ohren. Abends, wenn wir im Bett waren, setzte sich Mutter zu ihm unter den zweiten Kopfhörer. Wenn Vater Spätdienst hatte, las Mutter meist in einem Buch – sie selber besaß nur wenige – oder im Heftli. Zwei hatte man abonniert. Das eine, „Der Aufstieg“, der Weltanschauung wegen, das andere „In freien Stunden“, wegen der Versicherung.

      Einmal hat Vater einen langen, langen Draht zum Küchenfenster eines Freundes vom Elektrizitätswerk, der schräg gegenüber wohnte, gespannt. Antenne hieß dieses Ding. Unter dem Tischchen, auf dem das Radio stand, befanden sich zwei schwere Holzkistchen, fast so groß wie das Radio selber. Von Zeit zu Zeit musste sie Vater ins Ewe tragen. Das Ewe befand sich nahe bei Tramdepot und bei den Gaskesseln, die seltsamerweise mal hoch, mal niedrig waren. Wenn Vater die beiden Kistchen nach zwei oder drei Tagen zurückbrachte, waren die schwarzen Dinger mit dem komischen Zapfen – Batterien nannte sie Vater – wieder aufgeladen, und die Eltern konnten wieder die Kopfhörer aufsetzen und an den Knöpfen drehen und den Stimmen und der Musik lauschen, die auch ich hörte, wenn mich einmal der Gwunder, die Neugier, stach und ich einmal für ein paar Augenblicke die schwarzen Schalen über meine Ohren stülpen durfte.

      Eines Tages kam ein Mann. Mein Vater musste ihm etwas zahlen. Und dann klebte der Mann eine Marke auf die Sperrholzrückwand. Wie jene Abziehbildchen, die wir in der Apotheke bekamen, wenn Mutter Medizin oder Hustensirup für uns oder Kopfwehpulver für sich holte. „1933“ und daneben ein Schweizer Kreuz. Und klein darunter „Konzession bezahlt“ oder etwas Ähnliches.

      Und in diesem Jahr 1933 stand also im „Manchester Guardian“ zu lesen: Der Terror ist so entsetzlich, dass er weder in Deutschland noch im Ausland geheim gehalten werden kann.

      Und trotzdem „Sieg Heil“ und „Führer befiehl“. Später habe ich diese Rufe selber gehört am Radio, an dem auch in den folgenden Jahren immer noch dieselbe Marke mit der Jahreszahl 1933 klebte, bis die schwarze Kiste eines Tages durch ein kleines schmuckes Kästchen ersetzt wurde. Auf der Vorderseite bespannt mit braunem Stoff. An der Wand ein großer runder Schalter. Kabellautsprecher. Rediffusion. Drei Linien zur Auswahl. Die Antenne zum Nachbarhaus wurde heruntergeholt.

      Ich war empört über diesen Adolf Hitler, diesen Schreihals, und die Millionen Schreihälse, die mit ihm schrien. Konnte denn ein ganzes Volk diesem Mann zujubeln? Durchschaute ihn niemand? Wie konnten erwachsene Menschen so blind und dumm sein?

      Noch immer sitze ich auf der Bettkante. Durch die stockfleckigen Broschüren in meiner Hand sehe ich auf einmal orangenfarbige Zettel, etwas kleiner als Postkarten. Von Frau Stadler, die in der Buchdruckerei Tschudy arbeitete, hatten meine Schwester und ich sie zum Zeichnen erhalten.

      Damals war ich schon etwas älter. Aber es war noch vor dem Krieg. Ich ging in die vierte oder fünfte Klasse. Vater besaß eine alte Portabelschreibmaschine Marke „Erika“. Occasion. Manchmal ließ mich mein Vater darauf schreiben. Etwa zehn solche orangefarbige Zettel hatte ich eines Tages eingespannt. Einen nach dem andern. Und auf jeden schrieb ich den gleichen Text. Er war mir spontan eingefallen. Und ich habe ihn mein Lebtag nie vergessen:

      Als Hitler mit der großen Schnauze

      vor der Reichstagsrede stand,

      schimpfte er und schnauzte

      und rühmte nur sein Land.

      Aber plötzlich kam ‚ne Kugel,

      schoss den alten Gauner tot,

      und im ganzen Land ertönte:

      Nun gibt’s ein Ende mit der Not.

      In der Schule verteilte ich diese kindlichem Empfinden und Wunschdenken entsprungenen, unbeholfenen Verse. Heimlich. Der Elf- oder Zwölfjährige wurde zum politischen Agitator. Ich hörte von Spitzeln. Fröntler oder Frontisten – wie man sie nannte – gab es auch in St. Gallen. Ich hatte keine Angst. Unter den Eltern meiner Schulkameraden waren bestimmt keine, auch später im Gymnasium wusste ich niemanden, der aus einem solchen Hause gestammt hätte.

      Mario Karrer, der Name kommt mir jetzt wieder in den Sinn, war ein solcher Fröntler. Eine Schande sei es gewesen, hat Vater später noch immer gesagt, dass so einer im „Schützengarten“ öffentlich auftreten durfte und zweitausend Zuhörer gekommen waren. Natürlich nicht nur aus St. Gallen. Karrer hatte ja damals nur etwa achthundert Getreue im ganzen Kanton und im Appenzellerland. Viele waren wohl nur aus purer Neugier gekommen. Es war eine Schande.

      Ein anderes Mal war Vater aufgebracht, als es hieß, ein ganzer Zug von Fröntlern aus der ganzen Ostschweiz sei von St. Gallen aus nach Zürich gefahren. Hakenkreuzfahnen hätten am Versammlungslokal gehangen. Schämen müsse man sich, dass so etwas in der Schweiz vorkomme. Am schlimmsten sei es in Schaffhausen. In diesem kleinen Kanton rechne man mit zwei- bis dreitausend Fröntlern. Viele von ihnen hofften auf einen Anschluss der Schweiz an Deutschland, manche bereiteten ihn sogar vor.

      Auch Namen wie Mettler wurden als Nazi genannt. Und die Rolle von Hausamann, einem Hauptmann und späteren Major der Schweizer Armee, schien dubios. Später lernte ich ihn kennen. Ich sah ihn oft in der Stadt. Nun war er ein älterer Herr. Hager, groß, gut gekleidet und von aristokratischer Haltung. 1945 war seine Rolle – er betrieb einen privaten Nachrichtendienst, das Büro Ha – richtig bekannt geworden. Bis zur Machtergreifung Hitlers hatte er wohl vom Nationalsozialismus einiges erwartet. Ein Freund der Sozis und der Kommunisten war Hausamann sicher nicht. Bald aber erkannte er, was da gespielt wurde. Seine Beziehungen zu wichtigen Stellen und Männern in Deutschland benutzte er nun, um geheime Nachrichten an den Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, an General Guisan und wahrscheinlich auch an alliierte Stellen weiterzuleiten. In einem amtlichen Bericht des Bundesrates wurde ihm 1947 bescheinigt, dass „er mit der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgabe dem Land wertvolle Dienste geleistet hat“.

      Auch unter den Unterzeichnern der „Eingabe der 200“, die die Presse mundtot machen wollten und „Anpassung“ forderten, befanden sich einige St.

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