Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold

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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

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Und erst das Münchner Abkommen! Dass Chamberlain so blind, so vertrauensselig war, konnte ich nicht verstehen. Ich erinnere mich auch an Vaters Verachtung für Bundesrat Motta, der in einer öffentlichen Rede Mussolini für seine Mitwirkung am Münchner Abkommen gelobt hatte. Mir war klar, dass sich Hitler nie mit dem Sudetenland begnügen, sondern bald auch die ganze Tschechei besetzen würde. Genau so, wie er Österreich seinem Reich angeschlossen hatte.

      Der Name Dollfuss ist Teil meiner Erinnerung, obschon die damaligen Vorgänge nicht in mein Bewusstsein gedrungen waren. Wenn von der Ermordung von Dollfuss die Rede war, dachte ich immer an den Teufel mit dem Pferdefuß. Auch Schuschnigg war ein so lächerlicher Name. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte.

      Eines Tages, als ich von der Schule kam, erzählte mir die Mutter in grenzenloser Empörung, was sie am Radio gehört hatte. Die Deutschen seien in Wien einmarschiert, und die Weiber – sie sagte tatsächlich Weiber – hätten geschrien: „Der Adi kommt, der Adi kommt!“ Nicht etwa aus Angst. Nein, gejubelt hätten sie. Man stelle sich so etwas vor. Bei uns in der Schweiz könnte so was nie passieren. Zwar gebe es auch bei uns – Gott sei’s geklagt – einige Nazis, Fröntler. Aber die wären bald ausgeschaltet. Alle, Frauen und Männer, würden sich wehren. So feig und schlapp wie die Österreicher würden wir uns nicht ergeben. Eine Gefahr sei Hitler schon. Auch für uns. Die gleiche Sprache. Heim ins Reich. Großdeutsches Reich. Der Gotthard. Zum Glück sei Mussolini nicht daran interessiert, dass Hitler bis zur italienischen Grenze vorstoße. Auch wenn er selber gerne das italienischsprachige Tessin zu Italien schlagen würde.

      Man munkelte von den guten Beziehungen Mottas zu Mussolini. Dass aber unser Schicksal von solchen Männern abhängen solle, das wollte weder Vater noch Mutter in den Kopf. Auch mir, dem damals Elfjährigen, nicht.

      Und jetzt war es, wie vorauszusehen, zum Krieg gekommen. Angst und Zuversicht mischten sich seltsam in meinem Herzen. Darf man sich einen Krieg herbeiwünschen, um einen Wahnsinnigen zu bremsen? Einen Hitler oder Saddam Hussein? Noch konnte ich mir keine Vorstellung von so einem Krieg machen. Wer konnte es denn überhaupt? Die Alten vielleicht? Noch gab es welche, die den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erlebt hatten. Ab und zu hörte man im Radio, wieder sei ein Veteran des Siebziger Krieges gestorben. Oder jene, die den Weltkrieg miterlebt hatten? Manchmal erzählte Vater von der Grenzbesetzung 1914/18, wie sie im Bündnerland am Umbrail Wache gestanden hatten, und Mutter erinnerte sich, dass sie im Aargau den Kanonendonner aus dem Elsass gehört hatten.

      Aber jetzt war der Krieg noch weit weg. In Polen. Die Deutschen drangen rasch vor. In meiner Chronik vom 4. bis 16. September: „Die Polen verteidigen sich wie Löwen. Große Kämpfe bei Lodz. Lemberg und besonders bei Modlin und Warschau.“ Doch am 17. September heißt es: „Die Russen marschieren in Polen ein. Für England und Frankreich ist es keine Überraschung, weil man es schon lange geahnt hat.“ Und am 23. September trug ich in mein Oktavheft ein: „Vom 1. bis 23. September sind etwa 400 bis 600 deutsche Flugzeuge abgeschossen worden.“ Wie viele besaßen sie wohl noch? Offenbar waren diese Zahlen nicht bekannt. Auf den letzten Seiten meines Büchleins hatte ich verschiedene Angaben über die Bestände aus der Zeitung notiert: „5,6 Millionen waffenfähige Männer in England. 10 Millionen in Frankreich, 14 Millionen in Deutschland, 45 Divisionen in England, 154 Divisionen in Frankreich und 102 in Deutschland. 59 Schlachtkreuzer in England, 17 in Frankreich und nur 6 in Deutschland. 161 Torpedozerstörer besaß England, Frankreich deren 61, Deutschland nur 22. Tanks standen England 1500 zur Verfügung, Frankreich 2000 und Deutschland 3500. Schwere Kanonen besaß Deutschland 14‘000, also 3000 mehr als England und Frankreich zusammen, und bei den Maschinengewehren sah das Verhältnis ähnlich aus. Bei den Flugzeugen fehlten Zahlen. Optimistisch hatte ich geschrieben: „Dazu ist zu bemerken, dass Deutschland im Krieg gegen Polen viele Geschütze verloren hat! Deutschland kann während Kriegszeiten keine verlorenen Geschütze ersetzen, geschweige denn neue herstellen. Die Westmächte aber können das!!“

      Diese Eintragung entlockt mir ein Lächeln. Vermutlich habe ich diese „Weisheit“ damals auch aus der Zeitung abgeschrieben. Aber die beiden Ausrufezeichen stammten doch wohl von mir und zeigen, dass ich mir diese Auffassung zu Eigen gemacht hatte.

      Große Aufmerksamkeit schenkte ich in jenem Winter 1939/40 dem russisch-finnischen Krieg. Immer wieder notierte ich, wie viele Tanks und Geschütze die Finnen zerstörten, wie viele Last- und Panzerwagen und Pferde, am 8. Januar allein deren 1200, sie erbeutet hatten.

      Am 23. Januar vermeldete ich den Tod von Bundesrat Motta.

      Am 10. Mai 1940 gibt es gleich am Anfang des zweiten Büchleins eine längere Eintragung. Dieser Tag ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Nicht nur wegen des Eindringens deutscher Truppen in Holland, Belgien und Luxembourg, schon gar nicht wegen des deutschen Flugzeugs, das – wie ich jetzt lese – über dem Schweizer Jura zwischen Delémont und Moutier 17 Bomben auf die Bahnlinie abgeworfen hat, auch nicht, weil ich an jenem Mittag, als ich von der Schule in der Stadt nach Hause kam – ich besuchte inzwischen das kantonale Gymnasium –, erfuhr, dass meine Schwester schon am frühen Morgen von der Schule zurückgekehrt war, weil viele Lehrer in Erwartung eines deutschen Angriffs auf die Schweiz ihre Familien in Sicherheit gebracht hatten. Am Gymnasium war der Schulbetrieb noch normal verlaufen. Nein, was diesen Tag für mich unvergesslich gemacht hat, war ein ganz persönlich erlebter Vorfall, der sich in meiner Chronik wie folgt liest: „Am Abend des heutigen Tages überflog ein deutsches Flugzeug die Ostschweiz. Es wurde vermutlich von der Westfront vertrieben. In Dübendorf stellten ihm schweizerische Jagdflieger nach. Sie eröffneten das Maschinengewehrfeuer. In geringer Höhe überflog es Herisau und St. Gallen, wo ihm ein Motor eingeschossen wurde (?). Bis an die Grenze wurde es verfolgt. Dort machte es Anschein zu landen, flog über die Grenze und stürzte ab (?).“

      Hätte ich diesen Vorfall nicht in der nüchternen Sprache des Chronisten, sondern in der des herzklopfenden Zeugen zu schildern, so müsste ich ihn ungefähr so beschreiben: Am frühen Abend dieses denkwürdigen Tages spielte ich zwischen den Häusern an der Scheidwegstraße und der Rorschacherstraße mit Bruno Lachauer und Gildo Centina. Der eine war ein Sechstklässler, der andere ging in die Fünfte. Sie waren damals meine besten Freunde, sofern sie sich nicht zwischenhinein aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen für eine paar Tage oder Wochen als meine Feinde erklärten und mir mit Knebeln nachstellten, die ich jedoch jedes Mal heldenhaft abwehrte, obwohl ich unzweifelhaft ein Schwächling war. Aber wie auch gegen Alfred Hohl verlieh mir in solchen Fällen offenbar ein Adrenalinstoß ungeahnte Kräfte, die es zumindest Bruno und Gildo ratsam erscheinen ließen, wieder Frieden zu Schließen und die Freundschaft neu zu bekräftigen. Meiner überlegenen Schulweisheit wegen gestanden sie mir sogar eine gewisse Vormachtstellung zu. Wie wir uns also an jenem Spätnachmittag mit unseren Füßen um einen Ball stritten, vernahmen wir plötzlich ein lautes Motorenheulen. Wir hatten kaum Zeit, gegen die Straße zu laufen, da schoss schon ein zweimotoriges Flugzeug mit eindeutig deutschen Kennzeichen über die Häuser und unsere Köpfe hinweg, so niedrig, dass es beinahe die Kamine streifte, verfolgt, links und rechts, von zwei schweizerischen Jagdflugzeugen. Von vorn auf der Straße konnten wir gerade noch sehen, wie die Flugzeuge am Turm der Neudorfkirche vorbei verschwanden, und wir hörten, wie die schweizerischen Flieger am Ende der Stadt das Maschinengewehrfeuer wieder aufnahmen. Nur wenige Sekunden hatte der Spuk gedauert.

      Der Abstand der Häuser war gerade etwa so groß, dass wir den grauen Bomber, der wie ein Schatten den Himmel über uns verdunkelt hatte, für einen Sekundenbuchteil in seiner Gänze sehen konnten. Sein Rumpf fülle den ganzen Zwischenraum aus, und die Flügel hatten uns wie ein Nachtmahr erschreckt. Bruno behauptete steif und fest, er habe den Körper eines deutschen Piloten aus dem Flugzeug heraushängen sehen. Wie ein Sack Kartoffeln. Und Gildo glaubte beobachtet zu haben, wie das angeschossene Flugzeug gleich nach Verlassen des Luftraumes über der Stadt hinter der Neudorfkirche abgestürzt sei. Ich hatte weder das eine noch das andere gesehen. Aber eines waren wir uns alle drei sicher: Das Flugzeug hatte kaum über die Grenze entkommen können. Vielleicht war es schon über Frankreich angeschossen worden und hatte deshalb den vermutlich sicheren Weg über die Schweiz für den Rückflug gewählt.

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