Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold

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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

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in der Schule nahm man den Alarm ernst. Die ersten paar Male mussten wir ein dunkles Kellergewölbe aufsuchen. Einen Luftschutzkeller gab es nicht. Dicht gedrängt saßen wir in dem niedrigen Tonnengewölbe auf dem Boden, wann immer es sich traf am liebsten natürlich neben einer heimlich geliebten Schulkollegin.

      Als sich die Alarme häuften, manchmal zwei-, dreimal am Tag, wurde auf dem Dach des Schulhauses eine hölzerne Zinne errichtet. Abwechslungsweise wurden vier Schüler aufgeboten, um mit dem Feldstecher in alle vier Himmelsrichtungen zu spähen. Beim Sichten eines Flugzeuges wurde ein internes Klingelzeichen ausgelöst. Erst dann wurden die Schulzimmer geräumt.

      Auch ich musste einmal aufs Dach steigen. Doch außer Tauben, Schwalben und Spatzen flog uns nichts vor die Ferngläser.

      Mit der Zeit fühlte man sich sicherer. Eines Tages, während der letzten Vormittagsstunde, ertönte zehn Minuten nach dem Fliegeralarm das Klingelzeichen. „Los, in den Keller!“, befahl unser Geografielehrer. Doch es war ein so schöner Sommertag. Zusammen mit einigen Kollegen flüchtete auch ich durchs Fenster im Hochparterre. Während die andern schon davonrannten, half ich Vania, die auf den Sims gestiegen war, aber noch zögerte. Ich streckte ihr die Arme entgegen und fing sie auf. Vania, ein Auslandschweizermädchen, war mitten im Schuljahr aus Paris gekommen. Ich hatte mich in sie verliebt. Aber sie hatte sich einen Anderen zum Freund gewählt. Zusammen bummelten wir durch die Stadt. Bis die Entwarnung kam. Unter der Tür stand Hungerbühler, unser Pedell. Das bedeutete Arrest. Ich konnte gerade noch Vania am Ärmel fassen und sie hinter die nächste Hausecke ziehen.

      Doch so harmlos wie an diesem Tag war es nicht immer. Bomben fielen auf Schaffhausen, auf Stein am Rhein, das alte historische Städtchen. Viele Häuser wurden zerstört. Dutzende Menschen kamen ums Leben. In der Nähe von Zürich und Basel fielen Bomben auf Bahngleise und Güterbahnhöfe. Nicht weit von den Bombeneinschlägen bei Zürich befand sich die Waffenfabrik Bühle. Die Schweiz war gewarnt.

      Bei nächtlichen Fliegeralarmen gingen wir nicht in den Keller. Wir hatten uns schon zu sehr daran gewöhnt. Die Engländer, die nachts kamen, wollten doch nur der deutschen Fliegerabwehr ausweichen.

      Aber dann kam jene Schreckensnacht, als Friedrichshafen bombardiert wurde.

      Nach dem Alarm war ich wieder eingeschlafen. Ein Brummen von schweren Flugzeugen weckte mich wieder. Das mussten Dutzende sein. Aus der Stube vernahm ich die Stimmen der Eltern. Dann ein Zittern wie bei einem Erdbeben. Ich schwang mich aus dem Bett, eilte zur Tür, wollte sie öffnen. Aber es war, als risse mir ein unsichtbarer Geist die Klinke aus der Hand. Der Luftdruck. Der Sog. „Mach das Licht aus!“, rief mir Vater zu. Auch Ruth kam über den dunklen Korridor herbeigeeilt. Vater hob das schwarze Rouleau aus Wachstuch, das wegen der befohlenen Verdunkelung hinter dem Fenster angebracht war. Von draußen drang unerwartetes Licht in die Stube. Vater zog das Rouleau ganz hoch, und alle vier schauten wir in die Nascht hinaus, die keine Nacht mehr war. Große leuchtende Kugeln hingen über dem Hagenbuchwald, über der Eggersrieter Höhe. Es war, als fiele der Sternenhimmel ganz langsam auf die Erde nieder. Alles war taghell erleuchtet.

      Und wieder ein Zittern in der Luft und im Gemäuer.

      „Rasch in den Keller!“, befahl der Vater. Wir schlüpften schnell in unsere Kleider, zogen Hemd und Hosen über die Pyjamas und eilten über die Treppe in den Keller hinunter. Es war kein ausgebauter Luftschutzkeller. Er war nur halb unter dem Boden und diente zum Lagern von Obst und Kartoffeln und im Winter für die Briketts, mit denen der einzige Kachelofen in unserer Wohnung geheizt wurde.

      Von draußen drang das unheimliche Dröhnen der Flugzeuge herein.

      Irgendwo fielen schwere Bomben. Es hörte sich an wie nicht allzu fernes Donnerrollen. Die Erschütterung löste Angst aus. Von der Unterseite der Kellertreppe fiel Staub herab. Von den Wänden hörte man das Abbröckeln von Mörtel.

      Alle Bewohner des Hauses waren versammelt: die Witwe Zuberbühler mit ihren beiden ältlichen Töchtern; wir; Frau Wagenbach, der das Haus gehörte, mit ihrem Gatten: Herr und Frau Rommel mit ihren Söhnen Max und Eugen. Wir schauten uns mit fragenden Augen an. Auf den Gesichtern standen Angst und Schrecken.

      Vater war der Erste, der den Mut fand, die Treppe hinaufzusteigen und auf die Straße zu treten, als wir spürten, dass uns keine unmittelbare Gefahr drohte. Als er zurückkam, war er bleich im Gesicht.

      „Das ist die Hölle“, sagte er. „Der Himmel über dem Bodensee ist glühend rot, wie bei einer Feuersbrunst.“

      Zusammen mit meinem Vater stieg nun auch ich die Treppe hoch. Ruth, Herr Wagenbach, Max und Eugen schlossen sich uns an. Wir traten vors Haus. Gegenüber stand nur die Strumpffabrik. Links an ihr vorbei sah man zur Eggersrieter Höhe. Noch immer brannten Leuchtkugeln. So viele auch verloschen, so viele entzündeten neu und sanken langsam, wie wir vermuteten, an kleinen Fallschirmen nieder. Von den Flugzeugen war nichts zu sehen. Aber man hörte sie. Schon bald eine Stunde lang drang das Brummen, bald stärker, bald etwas schwächer, aber ununterbrochen herab. Welle um Welle bewegte sich von West nach Ost. Und etwas ferner vernahm man nun auch eine Wellenbewegung von Ost nach West. Hunderte mussten das sein.

      Die Strumpffabrik gehört zu meiner Jugend wie das Haus, in dem ich aufwuchs. Am Morgen früh, wenn ich erwachte, hörte ich die Maschinen. Und abends bis zehn Uhr. Besonders im Sommer, wenn hüben und drüben die Fenster offen standen. Immer dieses gleichmäßige, rhythmische metallische Zischen und Anschlagen der Wirkmaschinen. Oft stand ich am Fenster meines Schlafzimmers und sah die Männer und Frauen an den langen Maschinen hin und her laufen. Ihre Handgriffe waren mir vertraut, wenn sie die fertigen Strümpfe aus den Maschinen rissen, neue Spulen einsetzten, die Maschinen wieder anließen. Nur sonntags standen sie still. Dann war es, als fehlte irgendetwas.

      Gleich unserem Haus gegenüber war eine Treppe mit etwa zwanzig Stufen, die zu einer weiß gestrichenen Tür führte, die aber immer verschlossen war. Die Treppe diente nur noch uns Kindern zum Spielen. Die Verwegensten sprangen im Winter, wenn der Schnee einen halben Meter hoch oder noch höher lag, was damals noch oft vorkam, von zuoberst auf das noch nicht geräumte Trottoir.

      Jetzt in dieser Nacht stieg ich mit den anderen die Treppe hoch bis vor die Tür. Von dort sah man nicht den Bodensee selber, aber das Allgäu und den Horizont dahinter. Und der war jetzt blutrot. Ein riesiges Feuermeer musste sich darunter ausbreiten. Die Erde bebte, und von drüben, von Friedrichshafen, wo sich die Flugzeugwerke befanden, drang das dumpfe Donnern. Und noch immer kamen Flugzeuge von Westen. Viele gerieten in das Scheinwerferlicht. In raschen Bewegungen leuchteten die Strahlen den Himmel ab, standen manchmal für eine Sekunde still, um gleich darauf wieder den ganzen Himmel abzusuchen.

      Plötzlich ein lautes Donnern, fast eher ein Knall wie bei einer nahen Explosion. Aber nicht von drüben. Das war näher, im Südwesten. Fielen Bomben auf die Stadt? Wir zogen uns in den Keller zurück. Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass ein Flugzeug mitsamt seiner Bombenlast im Toggenburg abgestürzt und explodiert war.

      Endlich ließ das Dröhnen von draußen nach. Aber noch lange nachdem ich wieder im Bett lag, hörte ich die Wellen der Bomberstaffeln auf ihrem Heimflug.

      Eine solche Nacht erlebte ich zum Glück nicht mehr. Doch manchmal sah ich von meinem Schlafzimmerfenster aus, wenn ich mich ein wenig hinauslehnte, einen Feuerschein am Himmel, wenn die Engländer München bombardierten.

      Und einmal kamen an einem wolkenlosen, durchsichtigen Tag Hunderte von Flugzeugen vom Rheintal her über das deutsche Bodenseeufer geflogen. Und wieder luden sie über Friedrichshafen ihre todbringende Last ab. Im Licht der Sonne leuchteten die metallenen Leiber auf. Dazwischen blitzten immer wieder die explodierenden Schrapnells der deutschen Flak, für kurze Zeit schwarze Wölkchen am Himmel zurücklassend. Und wohl zwanzig Mal sah ich, wie eines dieser in der Sonne blitzenden

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