Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold

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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

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taten, die jene Zeit nicht miterlebt haben, wäre doch übertrieben. 1942 wurde jener Mario Karrer von den zweihundert Mitgliedern seiner Partei in den Kantonsrat gewählt. Doch schon bald wurde seine Partei verboten, und Karrer verlor sein Mandat.

      Nein, St. Gallen, das damals über siebzigtausend Einwohner zählte, als nazifreundlich zu bezeichnen, ist eine üble Verleumdung. Karrer hatte im ganzen Kanton kaum mehr als die zweihundert Stimmen seiner Gefolgsleute erhalten. Ein recht kleines Häufchen. Dumme und Unverbesserliche gibt es ja immer und überall.

      Trotzdem war Vorsicht geboten für meine Agitationstätigkeit. Doch, so dache ich, in der Schweiz gelten noch Recht und Gerechtigkeit und Anstand und gesunder Menschenverstand. Besaß ich, der Elfjährige, solchen und Millionen deutscher Männer und Frauen nicht?

      Auf dem vierten Heft in meinen Händen prangt auf rotem Hintergrund ein Portrait Hitlers mit zugekniffenem Mund und starrem Blick. Sieht man ihm nicht den Wahnsinnigen an?

      „Hitler rast – Die Bluttragödie des 30. Juni 1934“. Ich überfliege das Vorwort:

       In vielen deutschen Papiergeschäften sieht man eine Fotografie: Adolf Hitler beugt sich zu einem kleinen Mädchen nieder, das ihm einen Blumenstrauß überreicht. Der Reichskanzler lächelt, denn mit einem so unschuldigen kleinen Wesen muss man ja lächeln. Aber dieses Lächeln sieht merkwürdig aus; die Kinnladen sperren sich nussknackerartig auseinander, das Gesicht hat etwas Verzerrtes, Ausdruckloses. Man fürchtet, im nächsten Augenblick werde er das Mädchen beißen. So wird er dem deutschen Volke gezeigt: der gütige Führer, der Freund des Volkes, der einfache, bescheidene Mensch. Selten sind die Augenblicke, in denen er sich ganz zeigt, wie er wirklich ist. Jetzt ist das einmal ausnahmsweise geschehen. Die Welt hat einen Tag erlebt, an dem Adolf Hitler ganz aus sich heraustrat. Das war der Blutsamstag vom 30. Juni. Der Tag wird in Deutschland nicht so bald vergessen werden.

       Es ist schon viele Jahre her. Adolf Hitler vergoss damals noch kein Blut, er sprach nur viel davon. Er wetterte und drohte, wie er, wenn er erst die Macht habe, seine Gegner köpfen und erschießen werde. „Jawohl!“, rief er in einer Versammlung, „man fragt uns: ‚Werdet ihr’s denn wirklich übers Herz bringen, eure Gegner hinzumachen?‘ Seid überzeugt: wir werden’s übers Herz bringen!“

      Ich erinnere mich. Nach Mutters Tod habe ich diese Broschüre gelesen. Es ist die Geschichte vom Mord an Röhm, die Geschichte von Schleicher, Strasser, Papen und Konsorten.

      Auch dieses Heft lege ich beiseite. Später. Ich werde mein Wissen auffrischen. Die Vergangenheit lässt mich nicht los. Ich muss daran denken, dass mein Vater all diese Broschüren gelesen hat. Er nahm ihre antifaschistische Gesinnung in sich auf. Gesprochen hat er nicht viel davon. Nicht vor uns Kindern. Und doch hat er diese Gesinnung geteilt, und sie ist schon damals auf mich übergegangen.

      Bleibt noch das letzte Heft, das am wenigsten vergilbte. Auch da ein roter Umschlag. Eine Fotografie von einem Friedhof. Im Hintergrund ein paar Grabsteine, vorn ein aufgeschüttetes Grab ohne Kreuz, ohne Stein, ohne Umrandung, ohne Blumen. Darunter der Titel „Mein Herz schlägt weiter“. Briefe aus der Schutzhaft von Felix Fechenbach. Kultur-Verlag St. Gallen. 1936. Das Vorwort von Heinrich Mann.

      Wer war dieser Felix Fechenbach? Sein Name ist meiner Erinnerung bekannt. Ein Dichter und Schriftsteller. Redakteur des sozialdemokratischen Parteiblatts in Detmold, das Anfang März 1936 verboten wurde.

       Felix Fechenbach wurde am 11. März 1933 in „Schutzhaft“ genommen und am 7. August 1933 „auf der Flucht“ erschossen.

      So steht es lapidar in der Einführung zu diesem schmalen Buch. Und auf der letzten Seite: Fechenbach sollte in ein Konzentrationslager überführt werden. Auf der Paderborner Chaussee, nahe dem Ort Scherfede, hielt der Wagen, wurde Felix Fechenbach in eine Waldlichtung gezerrt … An dem völlig versteckten Ort fand man später in einer Blutlache das zerrissen Uhrenarmband des Toten. Erst auf dem Umweg über das Ausland wurde bekannt, wann und wo Felix Fechenbach geendet hatte. Man weiß, dass, nachdem der Antrag auf Freigabe der Leiche genehmigt war, ein Stirnschuss an ihr festgestellt wurde. Gegen diese Feststellung wusste der anwesende Arzt nichts zu erwidern, als dass man schweigen solle.

      Zwischen diesen beiden Fakten stehen die Briefe und Kurzgeschichten, die Fechenbach während der Haft schrieb.

      Ich blättere. Eine kleine Fotografie zeigt die drei Kinder Fechenbachs, einen Jungen und zwei Mädchen. Das ältere musste damals etwa fünf oder sechs Jahre als sein, also nicht viel jünger als ich. Ich blättere weiter. „Schlafliedchen für Lotte“ steht über drei kurzen Strophen:

      Schlaf, Lotte, schlaf,

      und sei recht lieb und brav,

      dann sing ich dir ein Liedchen fein

      vom Hahn und seinen Hühnerlein.

      Schlaf, Lotte, schlaf:

      Ich erinnere mich genau. Meine Eltern, Vater und Mutter, haben von Felix Fechenbach und seinem Schicksal erzählt.

      Wieder klingt Mutters Stimme in meinen Ohren. Dieses „auf der Flucht erschossen“. Sicher hat sie dieses kleine Buch gelesen. Aber sie sprach nicht wie von etwas Gelesenem. Es klang, auch jetzt in meiner Erinnerung, wie etwas unmittelbar Erlebtes. Aber warum hat sie es erzählt? Ich musste damals schon etwas älter gewesen sein.

      Natürlich. Lotti Fechenbach. Dieses blonde Mädchen auf dem Bild. Das hab ich doch selber gekannt. War das nicht jenes Mädchen, mit dem ich 1939 zuerst im Volkshaus in St. Gallen und dann an der Landesausstellung in Zürich in jenem Theaterstück „Pechvogel und Glückskind“ gespielt habe? Der Pechvogel war ich, und Lotti, sie war das Glückskind. Oder spielt mir die Erinnerung einen Streich? Aber jenes Glückskind war eine Deutsche, ein Flüchtling. Die Zusammenhänge werden mir klar. Franz Schmid, der Redakteur der „Volksstimme“, hatte die Mutter mit den drei Kindern unter seine Obhut genommen. Kultur-Verlag – der gehörte wahrscheinlich zur „Volksstimme“. Bald nach der Aufführung in Zürich, noch vor Ausbruch des Krieges, war Lotti mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach England ausgewandert.

      „Glückskind“ – ein Glückskind, dessen Vater angeblich „auf der Flucht“ erschossen wurde? Und ich als Pechvogel. Ich erinnere mich noch genau an die beiden Kostüme, die ich trug. Eines zerlumpt, eines Pechvogels würdig, das andere das eines Prinzen mit Pluderhosen und Barett. Auf einem Spaltstock aus Pappe musste ich mit einem hölzernen Beil Holz spalten. Es gibt Löcher in meiner Erinnerung. Irgendwie begegnete ich der Prinzessin Glückskind und bekam einen Kuss von ihr. Da wurde sie sehr, sehr traurig. Und sie erzählte ihrem Vater, dem König, warum sie so traurig war. Ein zerlumpter Junge hatte ihr einen Kuss geraubt. Doch er war ein gütiger König, und er schickte Boten ins Land hinaus, dass sie den Jungen suchten und er seiner Tochter den Kuss zurückgeben konnte, damit sie wieder glücklich wurde. Und die Häscher fanden mich und führten mich gefesselt vor den König. Der aber löste mir die Stricke, und ich bekam neue Kleider, musste der Prinzessin den Kuss zurückgeben und durfte sie heiraten.

      Und das alles war so gekommen. Schuld war eigentlich die Frau Stadler von der Buchdruckerei. Bei ihr in der Druckerei oder zu Hause durfte ich – wann ich nur wollte – Abfallpapier holen. Ach, was waren da für schöne bunte Papiere dabei, große Blätter und kleine, gummierte Reste, aus denen man Sterne oder einen Mond, ganze Häuser und Kirchen und Wälder schneiden und zu nächtlichen Bildern auf mattschwarze Bögen kleben konnte.

      Lieber als in der Druckerei holte ich das Papier bei Frau Stadler zu Hause. Das hatte seinen Grund. Ihr Sohn, der Elektriker, besaß nämlich eine Eisenbahn. Nicht irgendeine, wie man sie in Spielwarenladen kaufen konnte. Mit seinen Schalthebeln brachte er gleich drei Lokomotiven

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