Die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Martin Renold

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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

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Geheimnis der vier Oktavhefte

      1989. Neujahr. Noch DDR. Keine neuen Bundesländer. Noch Mauer. Noch gestrichelte Grenze des Deutschen Reiches bei Bayern 3. Ostpreußen, Pommern. Flieg, Käfer, flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommernland, Pommernland ist ab… Pommern ist ab, weg. Alles jenseits von Oder und Neiße ist weg. Jenseits von Oder und Neiße. Erinnert an Jenseits von Gut und Böse. Kohl will immer noch nicht. Will bis zuletzt die Chance bewahren. Es könnte ja einmal ein Wunder geschehen.

      Ich sitze immer noch auf der Bettkante. Unter dem Haufen vor mir auf dem Boden lugt die Ecke eines rötlichvioletten Büchleins hervor. Ich hebe die darüberliegenden Hefte und Bücher etwas in die Höhe und entdecke noch drei weitere Büchlein im gleichen Format. Natürlich erkenne ich sie sogleich wieder. Es sind drei schmale Büchlein, die ich selber gebunden habe, das erste, violette, in Kleisterpapier, das zweite und dritte in buntes, gespritztes Papier. Damals im Werkunterricht der Schule. In dem Raum, wo wir uns auch zu den Roten Falken versammelten. Nur das vierte Büchlein stammt eindeutig aus der Papierhandlung. Es ist in schwarzes Wachstuch gebunden. Eigentlich gehörten zu den vier Oktavheften noch zwei größere Quarthefte, die wie das vierte kleine schwarz gebunden waren. Doch ich kann sie nicht finden.

      „Chronik I“ steht mit Bleistift geschrieben in großen Buchstaben auf der ersten Seite des violetten Büchleins. Und auf der Rückseite „1. Kriegsjahr“. Auf der dritten Seite steht zuoberst der Titel „September 1939“.

      Nur die rechten Seiten sind beschrieben. Sie sind unterteilt in eine linke schmale Spalte, in der Daten notiert sind. Einige rot unterstrichen. In der rechten, breiten Spalte fein säuberlich in Schulschrift der Text. Ich lese die ersten Eintragungen. 1. Sept.: Die Deutschen marschieren in Danzig ein. Polen wird von der deutschen Armee überfallen. Hitler soll sich an die Ostfront begeben haben. 2. Sept.: Mobilmachung in der Schweiz. 3. Sept.: England und Frankreich erklären Deutschland den Krieg.

      Die linken Seiten sind mit schwarzer und farbiger Tusche gezeichneten Landkarten vorbehalten: Polen mit der Demarkationslinie, Estland und Litauen, die Gegend um den Ladogasee, später Dänemark, Norwegen und Schweden, Holland, Belgien und Luxemburg. Niederländisch Indien, Belgisch Kongo. Italien. Im dritten Büchlein Frankreich mit der Grenze zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet, die Straße von Gibraltar. Im vierten sind die linken und die rechten Seiten beschrieben. Keine Karten mehr. Die letzten Eintragungen sind vom 1. Dezember 1943: „Konferenz in Teheran zwischen Churchill, Stalin und Roosevelt“ und die allerletzte vom 2. Dezember 1943: „Die Deutschen werden zum Rückzug aus dem Sektor von Leningrad bezwungen.“

      Ich weiß bestimmt, dass ich die Eintragungen bis zum bittersüßen Ende des Krieges fortgeführt habe. Vielleicht hab ich die beiden Quarthefte einmal versehentlich zusammen mit alten Schulheften weggeworfen.

      In diesem Jahr wird es fünfzig Jahre her sein seit dem Beginn des Krieges. Und am gleichen Tag werden es fünfzig Jahre sein, seit ich heimlich in meinem Zimmer mit den Aufzeichnungen begann. Es sind keine Kommentare, keine persönlichen Stellungnahmen. Lauter lapidare Aufzeichnungen des Kriegsgeschehens. Nachrichten, wie ich sie aus dem Lautsprecher gehört oder in der Zeitung gelesen hatte. Mehr kann man ja wohl auch kaum von einem Zwölfjährigen erwarten. Für Historiker also vollkommen uninteressant. Für mich haben sie einen persönlichen Erinnerungswert.

      Ich erinnere mich noch gut an jenen denkwürdigen 1. September 1939, als ich mit den Aufzeichnungen begann. Unser Lehrer, Herr Vogel, war kurz vor der Pause aus dem Schulzimmer gerufen worden. Die Klasse, in der rechten Bankreihe die zwanzig Knaben, in der linken ebenso viele Mädchen, saßen auf einmal ganz ruhig.

      Es hatte sich herumgesprochen, dass Hitler losgeschlagen hatte. „Seit 4 Uhr 45 wird zurückgeschossen.“ Niemand zweifelte, dass zuerst die Deutschen angegriffen hatten.

      Beinahe im selben Augenblick huben die Glocken von der evangelischen Heiligkreuzkirche auf der andern Seite des Steinachtales und die der katholischen Marienkirche im Neudorf zu läuten an. Ich weiß nicht, was die andern Jungen und Mädchen in diesem Augenblick empfanden. Mir traten Tränen aus den Augen. In meiner Kehle und in der Brust begann es zu würgen. Einen Moment lang nur. Dann klappte ich plötzlich den Deckel der Schulbank hoch und erhob mich. Aufrecht stand ich da in der hintersten Bankreihe und begann zu singen: „Rufst du mein Vaterland“. Die Nationalhymne. Doch ich kann nicht singen. Immer wenn ich es versuchte, tönte es falsch. Zu Hause jedoch hatte ich oft und gerne gesungen. Bis einmal eine der beiden schon ältlichen Töchter der Witwe Zuberbühler, die über uns im dritten Stock wohnten, sagte: „Ich freue mich immer, wenn ich an eurer Tür vorübergehe und dich so frisch von der Leber weg singen höre, auch wenn es ganz falsch tönt.“ Das war ein herber Schlag gewesen. In der Schule bewegte ich nur noch den Mund. Und daheim sang ich von da an nur noch in mich hinein.

      Jetzt aber stand ich da und sang die ganze erste Strophe. Keiner stimmte mit ein. Aber es war unheimlich ruhig um mich her. Niemand wagte zu lachen. Man spürte die Betroffenheit der Schüler. Noch immer läuteten die Glocken. Nicht einmal der kleine Alfred Hohl, der mich so oft auf dem Schulweg plagte, mich an eine Hauswand oder einen Zaun drückte oder ins „Schwitzkästchen“ nahm, verzog den Mund. Er, der einmal durchgebrannt und drei Tage vermisst war, weil die Mitschüler ihn, den Kleinsten, gehänselt hatten, er, der es wagte, bei einem Hosenspanner dem Lehrer ins Schienbein zu treten – selbst er trug bei zu der Totenstille, die sich verbreitete, nachdem die Glocken endlich schwiegen und bis Herr Vogel wieder hereinkam und uns mit einer kurzen Erklärung nach Hause schickte.

      Wir packten unsere Sachen zusammen. Keiner stürmte auf den Pausenhof hinaus wie sonst. Vor dem Schulhaus und auf der Straße bildeten sich Grüppchen. Es wurde diskutiert. Wie lange der Krieg dauern würde. Zwei, drei Monate? Vielleicht den ganzen Winter über. Man dürfe die Deutschen nicht unterschätzen. Aber wenn die Engländer und die Franzosen den Deutschen den Krieg erklärten, dann könnte es nicht so lange dauern. Dann müsste Hitler auf zwei Fronten kämpfen. Das wird er nicht lange überstehen. Dass er diesen Krieg verlieren würde, daran zweifelte keiner.

      Hitler muss diesen Krieg verlieren, dachte ich. Wo bliebe da der liebe Gott, wenn dieser Teufel gewinnen würde? Wo bliebe die Gerechtigkeit? Das war schon damals mein fester Glaube und blieb es ununterbrochen, auch als die Deutschen Frankreich Belgien und Holland eroberten und den ganzen Balkan besetzt hatten, als sie in Russland bis zur Wolga und bis vor Moskau vorstießen und in Afrika bis El Alamein.

      Langsam verzogen sich die Grüppchen. Der Schulhof leerte sich. Alfred Hohl und ich hatten den gleichen Heimweg. Wir gingen friedlich nebeneinander her.

      Am nächsten Tag marschierte ein Bataillon Soldaten auf den Schulhof und hinüber auf den Rasenplatz. Dort stellten sie sich in Reih und Glied auf. Eine Feldmusik war dabei. Zum ersten Mal hörte ich den eintönigen Fahnenmarsch, der mir durch Mark und Bein ging. Die Soldaten erhoben die Hand zum Schwur. Fahneneid. Wieder kamen mir die Tränen. Wieder spürte ich ein Würgen im Hals.

      Sollte ich mich schämen, dass ich bei feierlichen Anlässen die Tränen nicht zurückhalten konnte? Später blieben lange Jahre meine Augen trocken. Heute überwältigt es mich wieder, wenn Vreni Schneider oder Franz Heinzer auf dem Treppchen zuoberst stehen, die Schweizer Fahne hochgeht und die Landeshymne intoniert wird, wenn in Berlin die Menschen sich umarmen, in Prag Dubček neben Havel auf dem Balkon erscheint. Ich habe mich damals nicht geschämt und schäme mich auch heute nicht.

      Ich habe an der Landesausstellung 1939 auf dem „Höhenweg der Eidgenossenschaft“ geweint, als ich vor dem Standbild des Wehrmannes stand, der, vor sich den Helm auf dem Boden, sich den Waffenrock überzog und dazu das „Rufst du mein Vaterland“ erklang. Noch war damals kein Krieg. Doch ich wusste, dass der Krieg kommen würde. Ja, ich hoffte, dass die Engländer und die Franzosen dem Treiben Hitlers und Mussolinis nicht mehr länger zusehen würden. Zorn hatte mich erfüllt, als Mussolinis Truppen in Abessinien einfielen. 1936. Ich

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