Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer
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Und so kam es, dass sich die beiden in dem Wald hinter ihrem Grundstück nicht sehr gut, eigentlich gar nicht, auskannten.
Da war es kaum ein Wunder, dass sich Cornelia bis zum frühen Nachmittag hoffnungslos verlaufen zu haben schien. Aber es war ein sonniger und warmer Tag und sie machte sich zu dieser Zeit noch keine Sorgen darum, wie sie wieder zurückfand. Hätte es sie nicht wegen eines körperlichen Bedürfnisses in die Büsche verschlagen, wäre ihr der Stein wohl niemals aufgefallen. Und dass er ihr auffiel, lag daran, dass er irgendwie nicht so recht an den Ort passte, wo er stand. Cornelia war, ganz Frau und Mitarbeiterin einer Tageszeitung, ein neugieriger Mensch, und begann deshalb, den Stein zu untersuchen.
Eine besonders aufregende Entdeckung erwartete sie nicht, aber vielleicht konnte sie herausfinden, was die eingravierten Symbole bedeuteten. Anschließend würde sie den Stein genauso schnell wieder vergessen, wie sie ihn unerwartet entdeckt hatte, nämlich sehr – glaubte sie. Aber da täuschte Cornelia sich. Sie behielt ihn sogar sehr genau, wenn auch nicht in guter Erinnerung, weil ihre Entdeckung Ereignisse ins Rollen brachte, die, obwohl es sich furchtbar theatralisch anhört, ihr Leben veränderten. Aber so kam es nun einmal.
Während Cornelia mit dem Ast das Moos beseitigte, spürte sie plötzlich ein unbehagliches Kribbeln in ihrem Arm, als lief ein schwacher elektrischer Strom durch ihn hindurch. Erschrocken zuckte sie mit ihrer Hand zurück und ließ den Ast fallen. Im gleichen Augenblick verschwand das betäubende Gefühl. Ungläubig starrte sie abwechselnd auf den Findling und auf ihre Handfläche. Das war unmöglich. Sie hatte erst einen Teil der Zeichen freigelegt. Es waren tatsächlich Schriftzeichen, aber sie waren kaum noch lesbar. Das, was sie mit Mühe entziffern konnte, lautete: »† 10. April 1740« und eine Zeile darunter: »Von Wilderern erschlagen«. Ein Gedenkstein also, aber für wen?
Noch einmal nahm Cornelia den Ast in die Hand und all ihren Mut zusammen, um auch noch den Rest der Inschrift von dem Moos zu befreien. Das Kribbeln in ihrem Arm kehrte sofort zurück, aber dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Es wurde nicht stärker, und sie stellte fest, dass es auch nicht unerträglich war, wenn auch allemal unangenehm. Sie beeilte sich, den Rest des Mooses zu entfernen, dann lag die Schrift frei:
Zum Gedenken an den Holzfäller
Heinrich Kreutzner
† 10. April 1740
Von Wilderern erschlagen
Bewegungslos starrte sie auf die Inschrift, länger, als sie zum Lesen der Zeilen benötigte, und bemerkte nicht, wie sie zunehmend von den Zeichen in den Bann gezogen wurde.
Cornelia hatte schon einige Minuten in ihrer Haltung verharrt, als ihr unvermittelt ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Dem Schauer folgte eine Serie von Bildern, die sie nicht deuten konnte. Sie waren zu dunkel und zu verschwommen, um sie klar zu erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie hastige Bewegungen menschenähnlicher Gestalten, aber sie konnte keine Einzelheiten erkennen und begriff nicht, was die Bilder darstellten. Dazu gesellte sich ein Wispern leiser Stimmen, die sie nicht verstand, gefolgt von einem hohlen, fernen Heulen. Aber erst, als schließlich ein schwarzer Schatten über die Szene glitt und für die Dauer eines Lidschlags den Blick verstellte, bevor er seitlich verschwand, fand sie die Kraft, sich von dem Anblick zu lösen. Mit einem Aufschrei wich sie zurück und fiel auf ihr Hinterteil. Unschuldig lag der Gedenkstein vor ihr.
Jetzt endlich bemerkte Cornelia, wie sehr sie ihre Umgebung ausgeblendet hatte. Es war, als erwachte sie aus einem Traum, und der hinterließ bei ihr den Eindruck eines Albtraumes. Sie zitterte am ganzen Körper. Plötzlich sah sie den Gedenkstein mit ganz anderen Augen. Er hatte seine anfängliche Harmlosigkeit verloren und verbreitete eine spürbare Bedrohung. Es war kein gewöhnlicher Gedenkstein, soviel erkannte sie, aber zu weiteren Überlegungen war Cornelia nicht fähig. Sie wollte nur noch weg und in ihrem jähen Entsetzen begann sie eine heillose Flucht.
Cornelia entfernte sich ohne nachzudenken von diesem Angst verbreitenden Ort, aber anstatt in Richtung des Weges zu laufen, der sich nur wenige Meter entfernt von ihr befand, lenkte sie ihre Schritte tiefer in den Wald und rannte im Zickzack um die Bäume herum. Erst nach einiger Zeit und bereits ziemlich außer Atem, wagte sie es, anzuhalten und sich umzusehen. Sie stellte mit einem deutlichen Unbehagen fest, dass sie sich inmitten des Waldes verlaufen hatte. Solange das auf den Wegen der Fall war, brauchte sie nur weiterzugehen. Sie würde dann auf einen anderen treffen und sicher irgendwann herausfinden, wo sie war, wenn sie sich vielleicht auch ein ganzes Stück von Weidlingen entfernt hatte. Doch jetzt sah die Sache anders aus. Dort, wo sie sich befand, gab es keinen Anhaltspunkt, in welcher Richtung sie am schnellsten den nächsten Weg erreichte. Immerhin schien die Unübersichtlichkeit des Waldes in diesem Augenblick ihr einziges Problem zu sein, aber sie hatte sich in einer solchen Umgebung noch nie so unwohl gefühlt wie jetzt.
Dann dauert es eben etwas länger, dachte Cornelia mit erzwungener Zuversicht. Es war erst früher Nachmittag und die Sonne schien warm durch die Bäume. Der Gedenkstein war weit weg, was konnte ihr also passieren? Kurz seufzend, als sie an die mögliche Anstrengung dachte, die vor ihr lag, wollte sie von jetzt an überlegt und möglichst in nur eine Richtung weitergehen, bis sie einen Waldweg erreichte, auf dem sie sich hoffentlich wieder zurechtfand. Sie konnte sich dabei nach der Sonne richten. Vielleicht waren es ja nur noch ein paar Meter. Das Unterholz um sie herum versperrte ihr allerdings die Sicht.
Bisher hatte Cornelia keine Zeit gehabt, über das Erlebte nachzudenken, und vorläufig kam sie auch nicht dazu, denn urplötzlich überfiel sie ein erneuter Schauder, und sie wurde von einem bis dahin nie gekannten Gefühl einer drohenden Gefahr übermannt. Gehetzt sah sich Cornelia um und fluchte lautlos. Zunächst konnte sie nicht erkennen, was ihre Angst rechtfertigte – bis sie sah, wie ein merkwürdiger Schatten zwischen den Bäumen hindurchfloss. Er war unförmig, aber es war kein Schatten, wie er im Wechselspiel zwischen den Zweigen der Bäume und dem Sonnenlicht entstand. Lauernd schien er Cornelia in wenigen Metern Abstand umrunden zu wollen. Wieder brach sie in Panik aus, und mit einem unbewussten Schrei aus einer begreiflichen Furcht lief sie weiter. Diese Furcht saß tiefer als die, die sie an dem Gedenkstein ergriffen hatte. Alle Gedanken an einen geordneten Rückzug aus dem Wald waren vergessen. Was immer das Ding war, sie musste ihm irgendwie entkommen. Sie lief, als ging es um ihr Leben.
Cornelia rannte und rannte und wagte es nicht, sich umzudrehen. In ihrer Panik empfand sie nicht einmal mehr das Gefühl der Bedrohung, die von dem Schatten ausging, und deren Vorhandensein ihr bewiesen hätte, dass er ihr immer noch auf den Fersen war. Tränen der Angst beeinträchtigten ihren Blick, während sie durch das Unterholz stürzte.
Bald geriet sie in ernste Atemnot und bekam Seitenstiche. Eigentlich war Cornelia sportlich, auch wenn sie gelegentlich rauchte, was sich jetzt unangenehm bemerkbar machte. Aber sie betrieb ihre Leibesübungen in einem Fitnesscenter, und sie dienten eher der Gestaltung ihres Körpers als der Steigerung der Leistungsfähigkeit ihres Atmungsvermögens. Was Cornelias Erscheinung betraf, konnte sie mit dem Erfolg ihrer Bemühungen durchaus zufrieden sein. Ihre Ausdauer bei schnellem Laufen hatte sich aber nicht entscheidend verbessert.
Nur kurz drehte sich Cornelia einmal um und stellte fest, dass sie den Schatten nicht mehr sah, aber das trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Er konnte sich auch außerhalb ihrer Sicht aufhalten. Außerdem war sie unfähig zu unterscheiden, ob die Angst, die sie immer noch erfüllte, von diesem Ding ausging oder aus ihr heraus entstand und mithin nur Einbildung war. Mit einem erneuten Schrei, dieses Mal vor Schmerz, als ihr infolge einer unvorsichtigen Bewegung ein Fichtenzweig ins Gesicht schlug, lief sie so schnell es ging weiter.
Schließlich