Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer
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Читать онлайн книгу Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer страница 6
In ungewöhnlicher Eile verließ Cornelia ihr Wochenendhaus, ließ das Türschloss zuschnappen, ohne die Haustür abzuschließen, lief zu ihrem Auto und warf ihre Taschen auf den Rücksitz. Für einen Augenblick starrte sie über das Lenkrad auf die Blockhütte, die in dem hellen Mondschein auf sie jetzt fast ein wenig gespenstisch wirkte.
„Es gibt keine Geister“, sagte sie entschieden, startete den Motor und verließ schwungvoll das Grundstück.
Glücklicherweise herrschte in der Nacht, noch dazu am Wochenende, wenig Verkehr, denn Cornelia war kaum bei der Sache, als sie ihr Auto durch die Stadt steuerte. Sie hatte sich zwar schon wieder beruhigt, war in Gedanken aber immer noch bei den Ereignissen in Weidlingen.
Cornelia wohnte in Ricklingen im Süden der niedersächsischen Landeshauptstadt und musste die Stadt der Länge nach durchqueren. In den frühen Morgenstunden, es wurde bereits hell, erreichte sie ihre Wohnung. Wie erwartet war Theo noch nicht zurückgekehrt. Cornelia ließ ihre Taschen im Flur stehen, ohne sie auszupacken. Mit einer Flasche Wein und einem Glas ging sie in das Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Obwohl es schon kurz nach vier Uhr war, fühlte sie sich nicht müde. Ihre Überlegungen drehten sich immer noch um die Erscheinungen, besonders um das kleine Mädchen an ihrem Bett. Wenn sie doch nur verständlich gesprochen hätte. Aber so würde Cornelia wohl kaum jemals herausfinden, was es von ihr wollte. Dass es jedoch vor dem Schatten geflohen war, fand sie weniger überraschend, so furchtbar, wie sein Auftauchen war. Nachdem Cornelia eine Zigarette geraucht und ein Glas Wein getrunken hatte, schlief sie auf dem Sofa ein.
3. Ratlosigkeit
Cornelia erwachte am späten Vormittag mit heftigen Rückenschmerzen. In ihrer Erschöpfung war sie in einer ziemlich unbequemen Haltung eingeschlafen. Dazu machte sich ein fieser Muskelkater bemerkbar. Vielleicht war er in der letzten Nacht auch schon vorhanden gewesen, aber in ihrer Aufregung hatte sie ihn nicht bemerkt. Sie ging ins Bad und anschließend bereitete sie sich ein kleines Frühstück. Für gewöhnlich hörte sie bei den Mahlzeiten Radio, aber an diesem Morgen fand sie keinen Sender, den sie lange ertrug. Sie stellte das Radio wieder aus.
Cornelia hatte gehofft, dass sie mit ihrer Rückkehr nach Hannover auch ihre Erlebnisse in Weidlingen hinter sich lassen würde, aber bald stellte sie fest, dass die Bilder sie nicht in Ruhe ließen. Ihr erschienen die Ereignisse auch jetzt noch so klar und deutlich, dass ihr plötzlich wieder ein Schauer über den Rücken lief. Sie schüttelte sich unwillkürlich, aber wenn sie damit auch die Erinnerungen abschütteln wollte, gelang es ihr nicht.
Cornelia stellte das benutzte Geschirr in die Spüle und das übriggebliebene Essen zurück in den Kühlschrank. Dann ging sie wieder in die Stube, wo sie ihr Notebook einschaltete. Sie hoffte, auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie sich die Dinge vornahm, die sie eigentlich in Weidlingen erledigen wollte, merkte aber schnell, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte. Es war zum Verrücktwerden.
Sie lehnte sich im Sofa zurück und schloss ihre Augen. Sofort waren die verwirrenden Bilder wieder da. Dieses Mal zwang sie sich, sie noch einmal zu erdulden. Manchmal, in ähnlich aufwühlenden Fällen, hatte Cornelia die Erfahrung gemacht, dass unangenehme Eindrücke bald verblassten, wenn sie die Erinnerung daran noch einmal genauestens wachrief. In diesem Fall waren sie sogar noch hellwach, aber vielleicht gelang es ihr ja trotzdem, sie auf diese Weise loszuwerden.
Das elektrisierende Gefühl blieb ihr erspart, dafür wurden die Bilder so deutlich, wie sie befürchtet hatte. Cornelia hatte ein sehr gutes Gedächtnis, ihr Freund witzelte gelegentlich, dass, wenn es ihr gelänge, ihre Eindrücke auf einer Festplatte zu speichern, sie auf ihre Kameras verzichten könnten. Sie hätten weniger mit sich herumzuschleppen und würden viel Geld sparen. Manchmal war eine solche Fähigkeit ja ganz praktisch, aber sie konnte auch zu einem Fluch werden, wie in diesem Fall, wenn man solche Bilder nicht mehr vergessen konnte. Und Cornelia fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie Furchtbares zu sehen bekommen würde. Glücklicherweise war ihr das aber bis dahin erspart geblieben.
Aus dem, was sie am Gedenkstein gesehen hatte, wurde sie immer noch nicht schlau. Die Konturen waren zu verwischt und die Bewegungen der unterschiedlich grauen Flächen zu schnell, als dass sie darin einen Sinn erkennen konnte. Das Mädchen in ihrem Schlafzimmer war zwar deutlich zu sehen und sie hielt sich dort mehrere Minuten auf, schätzte Cornelia, aber ihre Handlung war ebenso unverständlich. Was hatte es von ihr gewollt? Und wie konnte es so einfach verschwinden, ohne aus dem Zimmer zu gehen? Cornelia glaubte nicht an Geister. Alles hatte eine vernünftige Erklärung, da brauchte es keine Geister, aber in diesem Fall stieß Cornelias Vernunft an ihre Grenzen. Und dann kam dieser furchtbare Schatten.
Cornelia stutzte. Während sie die Bilder noch einmal im Geiste vorbeiziehen ließ, machte sie eine vielleicht bedeutsame Entdeckung. An dem Gedenkstein wurde die Szene für einen kurzen Augenblick ebenfalls von einem vorüberziehenden, unförmigen Schatten überlagert. Sie wiederholte im Geiste die Szene in ihrem Schlafzimmer und die an dem Gedenkstein. Cornelia war sich ihrer Umgebung durchaus bewusst und froh, dass sie sich jetzt weit weg von den Ereignissen in Weidlingen in ihrer Stube in Hannover befand und draußen heller Tag war. In der Dunkelheit der Nacht hätte sie sich das alles nicht noch einmal vorstellen mögen. So gelang es ihr, die Szenen bei geschlossenen Augen zu vergleichen, ohne sie durch deren erschrockenes Öffnen unterbrechen zu müssen.
Bisher war Cornelia sicher, dass die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun hatten, wie denn auch? Und ihr war rätselhaft, warum sie, obwohl sie noch niemals zuvor in ihrem Leben von Visionen, wie manch einer diese Erscheinungen wahrscheinlich nennen würde, heimgesucht worden war, in so kurzer Zeit gleich zweimal eine derartige Erfahrung gemacht hatte. Plötzlich kam Cornelia zu der Erkenntnis, dass die beiden Schatten eine gewisse Ähnlichkeit hatten. Wenn auch alles sehr schnell ging, so glaubte sie doch Gemeinsamkeiten zu erkennen. Und wenn es nicht unbedingt die Gestalt war, so doch die Art und Weise, wie sich die beiden Schatten bewegten und, und das war die wesentliche Gemeinsamkeit, beide hatten bei Cornelia einen gleichermaßen schauerlichen Eindruck hinterlassen. Konnte es also sein, dass es sich um ein und dieselbe Erscheinung handelte, oder waren es zwei ähnliche Erscheinungen mit gleichem Ursprung? Erschrocken öffnete Cornelia ihre Augen. Sie war allein in der Stube. Nein, Geister gab es nicht, aber war es möglich, dass dieser Schatten sie verfolgte? Doch genauer betrachtet war auch das unwahrscheinlich, denn er hatte sich anscheinend mehr um das Mädchen gekümmert als um sie.
Cornelia schüttelte energisch den Kopf. Das alles war völliger Unsinn. Die Angelegenheit begann sie zu ärgern. Warum machte sie sich überhaupt so viele Gedanken darüber, fragte sie sich zum wiederholten Mal. Waren es womöglich erste Anzeichen dafür, dass sie überschnappte? In ihrer Familie waren ihr allerdings keine Geisteskrankheiten bekannt. Cornelia stand auf, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Zurück in der Stube widmete sie sich wieder ihrem Notebook und zwang sich zu vergessen, worüber sie nachgegrübelt hatte. Die kommende Nacht lag noch in weiter Ferne.
Cornelia zuckte zusammen, als am späten Nachmittag die Eingangstür zu ihrer Wohnung geöffnet wurde. Es war ihr schließlich doch noch gelungen, sich voll und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und das so gut, dass sie ein Schreck