Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer
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Читать онлайн книгу Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer страница 4
„Wie weit ist es?“
„Ich schätze zehn Kilometer“, meinte er und schmunzelte über Cornelias bestürzten Gesichtsausdruck. Das war eine Strecke, die sie schon für ziemlich weit gehalten hätte, wenn sie im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte gewesen wäre. Aber nach ihrer wilden Jagd durch den Wald war sie davon weit entfernt.
„Ich könnte Ihnen aber auch anbieten, Sie zurückzufahren. Mit meinem Reviergang bin ich fertig und war sowieso gerade auf dem Weg, den Wald zu verlassen.“
Zuerst regte sich Freude in Cornelia, dann Argwohn darüber, ob er vielleicht irgendwelche anderen Absichten hatte, aber schließlich, nachdem sie ihn zwischenzeitig möglichst unauffällig gemustert hatte, glaubte sie, ihm vertrauen zu können. Nicht jeder Mann führte Böses im Schilde.
Der Jäger schien ihre Gedanken zu ahnen, denn er versuchte sie gleich zu beruhigen: „Es ist zwar leicht dahergesagt, aber Sie können mir vertrauen. Ich bin glücklich verheiratet und scheue alles, weswegen ich ein schlechtes Gewissen bekommen müsste. Aber ihr Zögern zeugt von Klugheit.“
Das erste Mal lachte Cornelia.
„Tja, ich bin eben nicht so blond, wie ich aussehe. Und ich lebe in einer Stadt. Also gut, ich werde Ihr Angebot annehmen.“
„Das ist unter diesen Umständen ebenso klug. Mein Auto steht dahinten.“
Dem Jäger fiel auf, dass Cornelia ein wenig humpelte. Wenn sie es sonst nicht tat, dann war das sicher auch ein Grund, warum sie auf seinen Vorschlag eingegangen war.
„Wollen sie ein Pflaster für ihre Wunde?“, fragte der Mann, als sie den Wagen erreicht hatten.
Cornelia betastete ihr Gesicht, betrachtete ihre Finger und schüttelte den Kopf.
„Danke, ich denke, es ist nicht so schlimm. Es blutet nicht mehr.“
„Wie Sie meinen.“
Er sperrte seinen Jagdhund in den Käfig im Kofferraum, und sie stiegen ein.
Cornelia war ein wenig enttäuscht. Sie hatte noch nie einen Jäger kennengelernt und war der Ansicht, dass es alles reiche Leute waren, die entsprechende Autos fuhren, und jetzt saß sie in einem betagten Kombi, der nicht einmal Allradantrieb hatte. Nicht, dass sie besonderen Wert auf noble Karossen legte, ihr Peugeot war nicht viel neuer und hatte auch kein Allrad und schon so manchen Schmarren, aber der Wagen des Jägers widerlegte ihr Vorurteil. Und sie fand das sympathisch.
Kurz darauf befanden sie sich auf dem Wirtschaftsweg und fuhren ein wenig schneller.
„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, fragte der Jäger. „Mir ist im Wald noch niemand begegnet, der sich so gründlich verlaufen hat.“
„Und so heruntergekommen aussah, verstehe. Aber was hätte mein Name damit zu tun?“
Der Mann lachte.
„Gar nichts, Sie haben Recht. Es waren eine Frage und eine Feststellung in einem. Vielleicht etwas unpassend kombiniert.“
„Na gut, ich heiße Cornelia Habsburg.“
„Angenehm. Mein Name ist Ferdinand Pestacker.“
Pestacker schwieg einen Augenblick und beobachtete Cornelia in sich hineinschmunzelnd aus den Augenwinkeln. Er wollte ihr die Gelegenheit geben, auf seinen Namen zu reagieren. Sie tat es wie erwartet, aber sehr zurückhaltend, indem sie ihn offen und fragend, aber ohne eine Bemerkung anblickte. Sie dachte an den nicht weniger auffälligen Namen ihres Freundes.
Er lachte noch einmal.
„Andere sind weniger taktvoll“, meinte er dann.
„Ein ungewöhnlicher Name“, fand Cornelia.
„Das ist wahr, aber sehr alt und unverwechselbar. Ich vermute, er entstand im Mittelalter, als die Pest durch Europa zog und das Land überall mit Pestackern übersäte, also mit Friedhöfen für die Pestopfer. Wie meine Vorfahren zu diesem Namen kamen, weiß ich allerdings nicht.“
Ferdinand Pestacker schien ein recht vergnügter Mann zu sein, und ein leidenschaftlicher Jäger, für ein Mitglied dieser Zunft sogar ein ausgesprochen freundlicher Jäger. Auf der Fahrt erzählte er Cornelia allerlei Geschichten aus seinem Jagdleben, ohne ihr allzu viele Fragen zu stellen, die sie persönlich betrafen. Dann erklärte er, dass in dieser Jahreszeit keine Jagdzeit war, weil die meisten Tiere Schonzeit hatten. Sie durften bei der Aufzucht ihres Nachwuchses nicht gestört werden. Es gab nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Wildschweine. Aber auch da gehörten frischlingsführende Bachen nicht dazu – also weibliche Wildschweine mit Jungen, übersetzte er aus der Jägersprache, als er den verständnislosen Gesichtsausdruck seines Fahrgastes bemerkte. Er war nur im Revier gewesen, um nach dem Rechten zu schauen. Sein Gewehr hatte er trotzdem mitgenommen, falls er auf kranke oder verletzte Tiere traf, um sie dann von ihren Leiden zu erlösen. Nicht weit entfernt verlief die Oegenbosteler Straße, und angefahrenes Wild lief manchmal noch kilometerweit, bevor es elend verendete. Nicht alle Autofahrer hielten nach einem Wildunfall an, und manche hatten auch gute Gründe dafür.
Cornelia hörte meist schweigend und nur mit einem Ohr zu. Nicht, dass sie das Jagdgeschäft wegen des Tötens von Tieren rundheraus ablehnte, und auch nicht, weil es im Wald immer wieder zu unangenehmen Begegnungen zwischen Nichtjägern, die sich unangemessen verhielten, und Jägern, von denen sich auch nicht wenige unangemessen verhielten, kam. Aber wirklich interessiert war sie daran nicht. Und nachdem sie in Pestackers Auto etwas zur Ruhe gekommen war, richteten sich ihre Gedanken wieder auf ihre eigenen Erlebnisse im Wald. Sie kämpfte mit dem Wunsch, ihren Chauffeur davon zu erzählen, aber entschied sich schließlich dagegen. Seine nicht unangenehme Plauderei verstärkte zwar ihr Vertrauen zu ihm, und sie kam zu dem Schluss, dass er wohl ein netter Kerl war, soweit sie es in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft überhaupt beurteilen konnte, aber es wäre die beste Gelegenheit gewesen, bei ihm den Eindruck einer überspannten Städterin zu hinterlassen. Und das ließ ihr Stolz nicht zu.
Es wäre tatsächlich ein weiter Fußweg gewesen, und Cornelia war froh, dass Ferdinand Pestacker sie am späten Nachmittag bis vor ihre Gartenpforte fuhr. Es war ihr ein wenig unangenehm, als sie sah, wie er stirnrunzelnd das Grundstück abschätzte, aber er war anständig genug, sich einer Äußerung zu enthalten. Vielleicht lag es an diesem Eindruck, aus dem er auf die Zustände in dem Blockhaus schloss, dass er ihre Einladung zu einem Kaffee ausschlug, wenn er es auch auf höfliche Art tat. Aber er wollte gleich weiterfahren. Bis nach Hannover, auch er wohnte in dieser Stadt, war es noch ein ganzes Stück, und er wollte nicht zu spät zu Hause sein. So trennten sie sich, nicht ahnend, sich in nicht allzu langer Zeit wiederzutreffen.
Später fragte sie sich dann doch, warum sie den Jäger nicht nach dem Gedenkstein gefragt hatte. Wenn ihn jemand kannte, dann einer, dem der Wald vertraut war. Der Jäger hätte vielleicht gewusst, was es mit ihm auf sich hatte. Sie hätte ihm ja nichts von den sonderbaren Ereignissen erzählen müssen, die im Zusammenhang mit dem Stein zu stehen schienen. Als Erklärung hätte es allemal genügt, ihm zu sagen, dass sie diesen Stein gefunden hatte. Diese Chance war jetzt vertan.
2. Nächtlicher Besuch
Cornelia duschte und zog sich frische Kleidung an. Die Schramme auf ihrer Wange war kaum der Rede wert und benötigte keine Behandlung, aber sie