Blinde Passagiere. Sabine Reimers
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Читать онлайн книгу Blinde Passagiere - Sabine Reimers страница 4
Gedämpftes, aufgeregtes Flüstern ließ sie hochschrecken. Der Himmel war von tiefblauer Farbe, und nur noch wenige Personen waren auf dem Deck. Zwei Stewards, die die Liegestühle abwischten und ordentlich in einer Reihe parallel zum Pool aufstellten, diskutierten auf englisch miteinander: „Kann gar nicht sein! Wenn er abgehauen ist, dann zieht er doch nicht vorher seine Uniform an und macht noch die Rettungsübung mit! Wir waren zusammen, wir haben die blinden Typen gemeinsam geführt! Ich hab dann mit ihm in der Kantine Kaffee getrunken, bin noch schnell aufs Klo, er wollte schon aufs Deck.“
„Aber weg ist weg. Und du hast ihn ja nur gesehen, bevor wir abgelegt haben! Hat sich’s einfach noch mal anders überlegt, hatte ja in Genua eine Frau, seinen kleinen Sohn … es ist schon schwer zu sagen: ich komme die nächsten zwei Monate nicht mehr nach Hause, mach’s mal gut!“
„Aber er hat seine Arbeit geliebt, wir hatten doch Spaß! Ich bin seit fünf Jahren mit Toni gefahren, wir sind Freunde. Da haut man nicht einfach ohne ein Wort ab.“
„Dann versteckt er sich wohl auf dem Schiff und wartet, dass du ihn suchst.“
„Blödsinn! Aber ich würd’ schon gern wissen, was mit ihm ist! Der Serviceoffizier ist jedenfalls heftig stinkig! Toni muss eine verdammt gute Ausrede haben, wenn er wieder auftaucht.“
„So in zwei Monaten etwa?“
„Ach, halt doch dein Maul!“
Sie zogen weiter, außer Hörweite.
Silvia trank den Rest Pinot Grigio aus, stellte das Glas auf die Theke der Bar zurück und verließ das Deck.
Als sie ihre Kabine betrat, in der noch alles dunkel war, spürte sie für einen kurzen Moment eine Beklemmung, die ihren Brustkorb gefangen nahm. Sie schaltete das Licht ein. Tief durchatmen, nicht gleich in Panik geraten. Nur Dunkelheit, alles ist gut.
Sie legte das Buch auf den Nachtschrank und machte sich zum Schlafengehen fertig. Die kleine Lampe über dem Bett ließ sie brennen, nur diese erste Nacht, solange alles noch ungewohnt war.
Er lauschte seinem Herzschlag, der nun wieder ruhig und gleichmäßig war. Der Rausch, die Erregung, war vorüber. Ruhe. Besser war es gelaufen, viel besser als er vermutet hatte. So endlos oft hatte er in seiner Fantasie die Situation durchgespielt, sich Alternativen vorgestellt, jede Gegenwehr und Reaktion abgewogen und sich Pläne zurechtgelegt, um nicht hilflos dazustehen. Nichts war unvorbereitet gewesen, nichts war unvorhergesehen abgelaufen. Er lächelte in sich hinein. Gut so. Seine Freunde schwiegen zu seiner Tat, das hieß, sie waren zufrieden. Es war seine Mission, auf diesem Schiff zu helfen. Sie hatten ihm versprochen, Menschen zu schicken, die seine Hilfe nötig hätten, wenn er bereit dazu wäre. Und bereit war er schon lange.
Nachdem der Steward auf dem Hocker in sich zusammengesunken war, gönnte er sich einen kurzen Moment, legte sich einfach auf den Boden und genoss den Nachklang seines gewaltigen Höhepunktes. Wie ein Dampfhammer rauschte der Pulsschlag in seinen Ohren, verzaubert spürte er der Erregung nach, die ihn in nie gekannter Weise stimuliert hatte. Vielleicht fiel er in einen kurzen Schlaf, wer weiß? Dann begann er mit dem Aufräumen. Zunächst ging er zum Bett und zog seine Hose wieder an. Mit einem Gefühl des Stolzes schloss er seinen Gürtel. Vor dem Nachttisch lag ein kleiner Haufen mit Kleidungsstücken. Nach und nach nahm er sie behutsam, fast zärtlich, auf und strich darüber. So gut es ging, legte er die Sachen zusammen und auf dem Bett ab. Als Letztes hielt er die Jacke des Stewards in seiner Hand. Er schnitt einen der oberen, goldüberzogenen Zierknöpfe ab. Achtsam fühlte er mit dem Zeigefinger die geprägte Oberfläche, die das Wappen der Reederei zeigte. Er legte den Knopf in eine kleine Pappschachtel, die er extra für diesen Zweck mitgenommen hatte.
Aus dem Kleiderschrank nahm er eine Rolle Bindfaden und schnitt zwei lange Schnüre ab. Er stapelte die Kleidung des toten Mannes darauf. Dann nahm er ein Buch aus dem Schrank, „Hannibal Rising“, und legte es zwischen Hose und Hemd. Schließlich verknotete er die Fäden.
Nun kam das Wichtigste: die Pflege seines Gefährten.
Er trat ins Bad, um das Messer abzuwaschen. Es schien in seiner Hand zu zucken, voller Stolz über seine perfekte Tat. Es bedankte sich, weil es so gut und sicher geführt worden war und so seiner Bestimmung in Perfektion nachkommen konnte. Liebevoll strich er über die Klinge und trocknete sie mit einem Mikrofaserlappen ab. Aus einem Fläschchen mit Pipettenverschluss nahm er einen einzigen Tropfen Spezialöl und verrieb ihn minutenlang auf der Metallschneide.
Seine Hände fuhren wieder und wieder den glatten, kühlen Stahl entlang. „Ich bin sehr stolz auf dich. Wir beide haben das sehr gut gemacht. Er hat nicht gelitten und wir konnten endlich das erste Mal wirklich helfen. Ich habe gespürt, wie deine Schärfe mühelos in ihn drang, getrieben von dem Wunsch, zu helfen.“
Er steckte den Dolch dann in das kleine, maßgeschneiderte Lederetui.
Schnell würde er jemanden Neuen finden müssen, um das Messer und seine Freunde zufriedenzustellen.
Nun galt es zu warten, ein bisschen lesen, vielleicht ein wenig fernsehen – bis die Zeit für die Vollendung gekommen war.
Tag zwei von zwölf
Silvias Wecker klingelte wie gewohnt um sechs Uhr. Auch im Urlaub wollte sie ihre seit drei Monaten gewonnene Routine beibehalten: eine Stunde Sport, Frühstück, dann den Tag beginnen.
Sie zog den Laufdress an und verließ die Kabine, um in das Fitnesscenter zu gelangen.
Trotz der frühen Stunde waren fünf der zehn Laufbänder bereits belegt. Silvia grüßte kurz nach rechts und links und legte dann ihr Handtuch über die Stange an der Seite und schaltete das Band ein. Zehn Kilometer, mit Steigungen und Sprints. Nach der Kreuzfahrt wollte sie ihren Dienst als Kommissarin wieder aufnehmen, dazu musste sie körperlich wie geistig wieder voll auf der Höhe sein. Ihr Ehrgeiz verlangte von ihr, dass sie ihrer alten Form in nichts nachstand. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich ein Jahr lang gehen lassen, aber seit einigen Monaten, seitdem sie die Perspektive gewonnen hatte, zurückzukehren, arbeitete sie wieder hart und hatte sich konkrete Trainingsziele gesetzt. Und wer weiß, bei einem Einsatz konnte eines Tages die Fitness über ihr Leben entscheiden ... Beim Laufen motivierte sie sich immer damit, dass sie auf alles zurückblickte, was sie in der Rehabilitation schon geschafft hatte. Immer wieder war sie versucht, wenn das Band eine Steigung simulierte, oder einen Sprint ansetzte, das Tempo herunterzusetzen. Dennoch tat sie es nicht: „Wenn ich einen Täter verfolgen muss, kann ich ihn auch nicht bitten, etwas langsamer zu laufen!“
Zuhause lief sie gerne im Tiergarten, lieber noch am Schlachtensee in Zehlendorf.
Das tat ihr immer sehr gut, und nichts macht den Kopf klarer, als diese Stunde jeden Morgen. Hinterher fühlte sie sich einfach nur super; frische Luft im Körper macht frische Gedanken im Kopf!
Es war so wohltuend, auf das Meer zu schauen, zu sehen, wie das Schiff langsam seinen Weg durch die blaue Unendlichkeit nahm, stetig, unbeirrbar auf das Ziel gerichtet. Auf der anderen Seite, von ihrer Kabine aus, hatte sie bereits die Küste gesehen. In einer Stunde würde die „Amerigo“ in Civitavecchia anlegen.
Silvia schnaufte sich eine vom Laufband vorgetäuschte Steigung hinauf. Nicht aufgeben, beiß dich durch,