Blinde Passagiere. Sabine Reimers

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Blinde Passagiere - Sabine Reimers

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den nächsten Bus in die Stadt zu nehmen und dort einfach ein wenig herumzubummeln.

      Ich habe solche Kopfschmerzen! Schnell wird mir meine neue Lage bewusst, meine Augen gewöhnen sich an das dämmrige Licht: Ich sitze auf dem kleinen Hocker, der sonst unter dem Spiegel steht. Auf meinem Mund klebt ein großer Streifen Klebeband, es tut so weh! Als ich versuche, meine Lippen zu bewegen, spüre ich, wie kleine Hautfetzchen abreißen. Dennoch will ich ihn ansprechen, ihn fragen, was er mit mir macht. Die Verzweiflung wird immer größer, ich beginne zu weinen, schluchzen.

      Ich bin nackt! Oh, Gott, was hat der Typ mit mir gemacht? Was hat er vor? Ich versuche, Beine und Arme zu bewegen, nichts geschieht. Meine Beine sind an den Hocker gebunden, die Arme auf den Rücken geschnürt. An den Handknöcheln sind sie verklebt, auch mit Packband ...

      Ich sehe einen Schatten vor mir knien, er scheint mein Gesicht zu begutachten ... eine Hand legt sich auf meine Wange, sie streicht eine Träne fast zärtlich weg. Und mit einem gewaltigem Ruck, ein Gefühl, als würde ein rot glühender Schürhaken in mein Gesicht gepresst, reißt er das Klebeband ab. Der Schmerz lässt mich aufkeuchen, meine Lippen bluten, die Haut ist abgezogen, alles ist wund und schmerzt. Sofort schnappe ich nach Luft und will schreien, da legt sich auch schon seine Hand wie eine Pranke auf meinen Mund. Er macht „Sch“, wie eine Mutter, die einen Finger auf die Lippen legt, wenn das Kind still sein soll. Ich kann ihn nicht richtig erkennen im Dunklen. Langsam nicke ich. Wenn ich jetzt mitspiele, nicht schreie, brav bin, passiert vielleicht nichts Schlimmeres.

      In einer Sprache, die ich nicht verstehe, redet er auf mich ein. Beruhigend, beschwichtigend ist sein Tonfall. Liebevoll streicht er mir über das Haar. Weder berührt er meine Brust noch meine Haut … nur an meinen Haaren scheint er interessiert zu sein.

      Ich flüstere leise auf Englisch: „Help. Let me go. Please. Now.“

      Er redet auf mich ein, dann legt er seine Stirn an meine. Seine Hand hält meinen Hinterkopf ganz fest. Er sagt:

      „I will help you. Now.“ Dabei drückt er mit einem Finger so fest auf die Stelle im Nacken, wo der Schädelknochen anfängt, dass es schmerzt.

      Er steht auf, kreist um mich herum und gelähmt vor Angst und Spannung halte ich den Kopf auf die Brust gedrückt. Ich kann mich kaum bewegen und habe schreckliche Angst, einen Fehler zu machen, seine Gewalt erneut herauszufordern. Rodrigos Gesicht erscheint vor meinen Augen. Mein geliebter Mann, was wird er nur jetzt tun? Seine Schicht, genauso wie meine, endet erst in acht Stunden. Vorher wird mich niemand vermissen. Erschreckt höre ich, wie der Mann seine Hose öffnet, sie herunterrutscht und er sie mit Schwung auf das Bett schleudert. Was will er mir in dieser fest geschnürten Lage antun? Er packt meinen Hinterkopf und drückt meinen Schädel noch kräftiger auf die Brust. Er beginnt heftig zu atmen und befriedigt sich deutlich hörbar. Was wird er tun, wenn er fertig ist? Lässt er mich dann laufen? Ich beginne zu hoffen und zu beten. Kurz bevor seine Erregung ihren Höhepunkt findet, lässt er meinen Kopf los, ich bin erleichtert. Es ist überstanden. Ich bin erlöst! Dann … sehe ich von oben auf mich selbst herab. Er ejakuliert auf den Fußboden und stöhnt ein letztes Mal laut auf. Aus meinem Nacken ragt genau aus der Stelle, die er so fest gedrückt hatte, ein Messergriff aus geschnitztem Holz. Es tut nicht weh. Nichts tut mehr weh. Ich spüre keine Schmerzen mehr und die Angst ist auch weg. Ruhe und Frieden stellen sich ein. Endlose Liebe zu meinem Mann, meinem Schatz. Dann verlasse ich diesen Ort.

      Es war heiß in Rom und wie immer voller Touristen. Silvia gönnte sich ein großes „Gelato“ aus einer der zahlreichen Eisdielen mit ihrer sensationellen Auswahl. Dann setzte sie sich auf die Spanische Treppe, um dem Treiben in der Stadt aus sicherer Distanz zuzusehen. Eine Filmszene aus einem alten Hollywoodstreifen kam ihr in den Sinn: Audrey Hepburn auf eben diesen Stufen als geflohene Prinzessin und Gregory Peck setzt sich zu ihr ... Nun, für sie war kein Traummann mit starken Muskeln in Sicht ... Bin mir auch nicht sicher, ob ich das möchte. Als ich das letzte Mal dachte, meinen Prinzen getroffen zu haben, hat das ganz böse geendet. So etwas brauche ich eigentlich nicht wieder. Auf diese Weise jedenfalls nie mehr.

      „Sie sollten nicht so kompromisslos in die Zukunft sehen. Es kann gut sein, dass, wenn alles passt, auch wieder eine neue Beziehung im Raum steht“, Silvia glaubte die Stimme ihrer Therapeutin zu hören, „da werden dann Ihre Zweifel und Ihre alten Verletzungen nicht mehr im Wege stehen. Öffnen Sie sich Ihrem Glück!“

      Silvia atmete tief durch und beschloss in Gedanken das Thema zu wechseln. Olle Kamellen! Wenn der Traumprinz auf einem Traumschimmel angeritten käme, würde sie schon auf ihn zugehen – um ihm zu sagen, dass sie Angst vor Pferden habe.

      Sie bummelte noch durch die Stadt und sah sich in Boutiquen ein wenig um. Wenn sie jetzt ein Souvenir für ihre Tochter Anja fände, könnte sie dieses wichtige Thema gleich abhaken.

      In einem kleinen Geschäft an einer Straßenecke fand sie einen Kleiderständer mit Seidenschals in allen Farben. Die würden ihrer Tochter gefallen! Sie wählte einen Schal aus, auf dem viele kräftige Farbtöne in einem Wirbel zusammenliefen. Eigentlich war er wirklich sehr, sehr schön ... und zu den bevorzugt grauen und schwarzen Oberteilen, die sie selber gerne trug, würde er ausgezeichnet aussehen.

       Mal ein bisschen mehr Farbe, wäre nicht schlecht. Mal ein bisschen gewagter.

      Sie lächelte und suchte einen weiteren Schal für Anja aus, mit ähnlichem Farbenspiel, aber ein ruhigeres Muster. Den „Wirbelschal“ legte sie sich gleich um die Schultern, um ihr graues Top aufzupeppen. Im Spiegel sah das richtig gut aus.

      Beschwingt von ihrem Shoppingerfolg fuhr sie zum Bahnhof zurück, um den nächsten Zug nach Civitavecchia zu nehmen. Noch war der Zug fast leer, die meisten kosteten die Zeit in der „Ewigen Stadt“ bis zum Ende aus.

      Sie ging zurück auf die „Amerigo“ und suchte ihre Kabine auf. Das riesige Schiff wirkte wie ausgestorben.

      Es war so herrlich warm an diesem Nachmittag, sodass sie sich ihren Badeanzug anzog, ihren Schmöker mitnahm und zum Swimmingpool auf das Oberdeck ging.

      Das Deck war recht gut besucht, aber nicht überfüllt.

      Erstaunt sah sie den weißen Taststock eines Blinden am Rand liegen. Sein Besitzer, den sie an der schwarzen Sonnenbrille erkannte, zog gleichmäßig seine Bahnen.

      Sie ließ sich ins Wasser gleiten und begann zu schwimmen. Sie genoss es, herrlich, das warme Wasser, die angenehme Luft. Schließlich legte sie sich dann auf einen der Liegestühle und holte ihr Buch hervor.

      Nach einiger Zeit blickte Silvia hoch und sah, wie sich der Blinde aus dem Wasser zog und nach seinem Stock zu tasten begann – aber in die falsche Richtung unterwegs war. Sie sprang auf, ergriff den langen Stab und reichte ihn dem Mann. „Bitte sehr!“ Er lächelte ihr zu.

      „Danke! Da muss ich jetzt eine andere Treppe genommen haben als zuerst beim Einstieg. Dann wird’s schon schwierig. Tobias Pflüger ist mein Name. Ich danke Ihnen!“ Er hielt ihr seine Hand hin.

      „Silvia Landwehr. Hab’ ich gerne gemacht!“ Sie ergriff seine Hand und er legte seine andere auf ihre und strich darüber, tastend und fühlend. Irgendwie war ihr die Berührung unangenehm und sie zog die Hand zurück. „Dann bis später!“

      „Ja, bis später!“ Er ging mit seinem Stock bis zu einem Liegestuhl, nahm den Bademantel, der darauf lag und ging von Deck.

       Schon beeindruckend, wie schnell und selbstsicher er geht, nachdem er seinen Taststock zurückhat.

      Als es Zeit für das Abendessen wurde, fanden sich alle wieder im Speisesaal ein. Viel wurde

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