Blinde Passagiere. Sabine Reimers
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„Ja, ich freue mich darauf besonders!“
„Ick ooch. Det wird ein Abenteuer!“
Na, prima, mit Frau Menkens Geschnatter durch den Tag. Aber der Vulkan ist hoch, 3.000 Meter, da ist die Luft ja dünner. Vielleicht verstummt dann ihr Redefluss mal.
„Wir nehmen auch an der Führung teil.“ Frau und Herr von Waldensrieth erschienen mit übervollen Tellern vom Frühstücksbüfett. Offenbar hatten sie die kleine Unterhaltung mitbekommen.
„Schön“, sagte Silvia freundlich, „nebenan am Tisch, dort sitzt die Gruppe der blinden Männer. Einige von ihnen werden auch teilnehmen. Ich finde das bemerkenswert!“
Herr von Waldensrieth zog verächtlich seine Augenbrauen in die Höhe. „Ich bin weniger beeindruckt. Weshalb sollte ein Mensch, der nicht sehen kann, das tun? Er hat nichts davon. Nimmt nur die Zeit und Fürsorge von Sehenden in Anspruch, die ihrerseits dann weit weniger davon haben. Also für mich ist das ein äußerst egoistisches, einseitiges und zweifelhaftes Unterfangen.“ Er biss herzhaft in eine Brötchenhälfte, die mit Lachsscheibchen lückenlos bedeckt war.
„Ich finde es beeindruckend, wenn man sich trotz seiner Behinderung Träume bewahrt und diese dann auch umsetzt und lebt.“ Silvias Stimme klang etwas trotzig.
„Ja, es stellt sich nur die Frage, welchen Preis man anderen zumuten darf! Ich würde das nicht machen, Blinde den Berg hoch– und runterzuzergeln, nur damit sie sagen können, sie wären auch mal oben gewesen.“
„Na, da sind wir wohl unterschiedlicher Meinung. Aber von uns muss das ja keiner tun, sie haben ja ihre eigenen Führer dabei.“ Sie konnte nicht ahnen, wie als wie falsch ihre Annahme sich erweisen würde.
Nach dem Frühstück musste Silvia sich beeilen: Schnell die Wandersachen angezogen, feste, knöchelhohe Schuhe und ab zum Bus, der sie zum Ätna bringen sollte.
Auf der eineinhalbstündigen Busfahrt wurde Silvia fast erschlagen von den Eindrücken. Sie war bisher nie auf Sizilien gewesen und fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, die Ätna–Wanderung gebucht zu haben.
Die herrliche Stadt Catania zog am Fenster vorüber, schöne alte verwinkelte Gassen, deren Nischen und dunkle Öffnungen Einladungen zum Erkunden aussprachen. Kleine, typische italienische Lädchen mit verlockenden Schaufenstern ... Leider viel zu schnell war der Bus aus den Siedlungen heraus und sie fuhren durch Plantagen aus Zitronenbäumen. Wie muss das duften! Etwas neidisch dachte sie an den anderen Tross mit den Blinden, die einen Zitronenhain besichtigen würden. Dann veränderte sich die Landschaft schlagartig und Silvia wusste, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.
Gerade noch war alles blühend, grün und wirkte lebendig, plötzlich war sie in einer anderen Welt. Wie eine Mondlandschaft dehnten sich die graue Lava und die Schlackehänge des Ätnas aus, so weit sie aus dem Bus sehen konnte. Auch die Straße veränderte sich, statt auf dem ruhigen und gewohnten Asphalt fuhr der Bus nun auf erstarrtem Lavagestein deutlich unruhiger und holpriger. Bald kam die Talstation einer Seilbahn in Sicht. Der Bus hielt und alle stiegen aus. Obwohl sie nur eine kleine Gruppe von zwölf Leuten waren, warteten bereits zwei Führer auf sie. Einer von ihnen wandte sich sofort Sebastian, Manfred und ihren vier Begleitern zu.
Der andere „guida del vulcano“ ging auf Silvias Grüppchen, das sich vor dem Bus platziert hatte, zu. Er sprach gut Deutsch, mit der attraktiven italienischen Melodie:
„Na, alle gut angekommen? Ich bin Gianni, dort ist mein Kollege Massimo und wir führen Sie heute in die aufregende Welt des Ätnas. Wir fahren jetzt mit der Seilbahn, das dauert eine Viertelstunde, dann geht es weiter mit Geländewagen. Von der „Torre del Filosofo“ aus wandern wir dann los. Die Wettervorhersage ist sehr gut, aber das muss nichts heißen, hier oben wechselt das Wetter schneller, als das Internet nachkommt. Sie haben alle feste Schuhe an, keine High Heels?“, er grinste Silvia an. „Sie würden kaum glauben, was man hier so jeden Tag sieht.“ Silvia lächelte zurück.
Sie betraten eine Gondel der Seilbahn und Frau Menken setzte sich neben Silvia. Der Bergführer Gianni stieg bei ihnen ein. Das Ehepaar von Waldensrieth nahm lieber die nächste Kabine der Bahn.
„Det is’ wat, oder? Wie aufregend! Ein echter Vulkan! Haben Sie so was schon erlebt?“ Silvia schüttelte den Kopf und verneinte höflich. Die Kabine setzte sich in Bewegung und trug sie über die unwirklichste Landschaft, die sie je gesehen hatten.
„Da, det glaube ick ja nich, ist det gruselig, wa’?“
Silvia sah in die gedeutete Richtung: Wie ein mahnender Zeigefinger ragte aus einem Aschetal ein Trägermast der alten Seilbahn heraus. Wie nach einem apokalyptischen Angriff, die Reste der Zivilisation grüßen die Überlebenden... „Das ist wirklich gruselig, wie ein Mahnmal, dass wir es immer noch mit einem aktiven Vulkan zu tun haben, den man keinen Moment unterschätzen sollte.“ Der „guida del vulcano“ nickte den beiden Frauen zu. „Die alte Seilbahn ist 2002 begraben worden, und wenn dem Ätna morgen die neue nicht mehr gefallen sollte, ist damit dann auch Schluss!“ Er lachte, als er das besorgte Gesicht von Frau Menken sah. „Keine Sorge, wir sind gut vorbereitet. Der Vulkan wird besser überwacht als ein Terrorist in einer Einzelzelle. Wenn es nur die leisesten Hinweise auf einen drohenden Ausbruch gibt, sagen wir sofort alle Touristentouren ab. Nichts ist schlechter fürs Geschäft als eine Bilderstrecke im ‚Corriere della Sera‘ mit verkohlten und in Lava verkapselten Körpern, die mal zur eigenen Bergtruppe gehörten!“
„Na, det is’ ja beruhigend.“ Frau Menken wandte ihren Blick ab.
Als sie die Bergstation erreichten, stand schon ein Unimog bereit, in dem die andere Gruppe bereits Platz genommen hatte. Alle mussten sich anschnallen, dann begann eine wahrlich wilde Fahrt durch unwegsames Gelände. Sie wurden kräftig durchgeschüttelt, wenn Silvia auch den Verdacht hegte, dass der Fahrer dies beabsichtigte, um sie zu beeindrucken.
Dann stoppte das Gefährt scheinbar im Nichts. Auf der anderen Seite des Busses befand sich eine kleine Berghütte, die „Torre del Filosofo“.
Silvia sah sich um: eine atemberaubende Aussicht – um sie herum eine karge Mondlandschaft, in grauem und stellenweise rotem Lavagestein und locker scheinender Asche. Ein festgetretener Pfad führte von der Hütte weg, verzweigte sich vielfach und zeigte zu den vielen Kratern, die größten wie Berggipfel aufragend. Zarte Rauchschleier strömten aus ihnen, wie um anzudeuten, dass es sich eben nicht um gewöhnliche Berge handelte. Auch neben den Wegen, hier und da, stieg Rauch aus Spalten im Boden. Die Luft war deutlich dünner als im Tal und eiskalt. Nur wenige Grade über Null, vermutete Silvia. Sie war froh, trotz der sommerlichen Wärme an Bord genau für diesen Tag ihre Allwetterjacke mitgenommen zu haben. Auch die anderen Teilnehmer der Bergtour zogen die Reißverschlüsse dicker Jacken zu. Kapuzen wurden zurechtgerückt und Mützen aufgezogen.
Gianni sprach kurz mit dem anderen Bergführer, dann wandte er sich ihnen zu: „So, cari amici, da sind wir, am Ausgangspunkt unserer Wanderung. Wir gehen zusammen, die etwas besondere Gruppe bitte mit Massimo voraus, damit wir uns an ihr Tempo anpassen können. Bleiben Sie gerne ab und zu stehen, Sie können auch Fotos machen, genießen Sie die Aussicht, aber vergewissern Sie sich, dass Sie zu jedem Zeitpunkt wieder zu uns aufschließen können! Wenn Sie sich von uns entfernen, ist das sehr gefährlich und ausgesprochen completamente idiota!“
Der Tross setzte sich in Gang.
Die Blinden gingen in Dreiergruppen, zwischen Frank und Tobias ging Manfred, Alex und Klaus hatten sich bei Sebastian eingehakt. Massimo begleitete sie, um sie auf Besonderheiten des Weges hinzuweisen. Gianni gesellte sich zu den Übrigen.