Blinde Passagiere. Sabine Reimers
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Schnell gewannen sie an Höhe. Frau Menken, wie ein klebriges Bonbon an einer Schuhsohle an Silvia hängend, begann bald zu keuchen: „Mensch, die loofen, det ist ja nicht zu glauben. Ick komm’ schon schwer nach, aber so ins Dunkle, det is stark, wa’? Warum tun die det nur?“
„Nicht wegen der Aussicht, da wette ich“, Silvia grinste, „wir werden sie nachher auf dem Schiff mal fragen. Ich saß gestern Abend noch mit einigen von ihnen zusammen, das war ausgesprochen nett!“
„Nicht wegen der Aussicht“, echote Herr von Waldensrieth halblaut seiner Frau zu,„nicht wegen der Aussicht. Ist ja toll, zu viert drei Betreuer, die einem den Bauch pinseln, eine wahre Luxusführung ist das. Und natürlich, wir passen uns denen an, was auch sonst!“
„So, so, das ist ja schön.“ Irene tat, als hätte sie den bissigen Kommentar nicht gehört, „icke war gestern Abend im Theater, det ist ja ooch was, jeden Abend Show ...“
Sie stellte Silvia den vollständigen Plan der Abendveranstaltungen auf dem Schiff vor, inklusive allem, was sie demnächst so vorhaben würde.
Silvia hörte nur mit einem Ohr zu. Sie war viel zu beschäftigt, alle anderen Sinneseindrücke zu verarbeiten. Der Boden bestand aus gräulich–rötlichem Geröll, gelegentlich wehten Schwaden mit schwefligem Geruch durch die frostigklare Luft. Die Landschaft sah fremdartig aus, mit Kegeln und Kratern verschiedenster Größen um sie herum. Ab und zu waren Flecke von Blüten zu sehen, die wie kleine Polster aus dem Boden wuchsen, als hätte das Amt für Tourismus beschlossen, dass hier Farbkleckse hingehören und wahllos bunte Kissen verstreut.
Neben einer kleinen Spalte, aus der dichter weißlicher Rauch drang, hielt die Gruppe an. Der Geruch nach faulen Eiern verstärkte sich. Am Rand des Erdrisses waren Schwefelkristalle wie gelbe Flechten gewachsen. Auf Anleitung des Fremdenführers hin bückten sich die Blinden, um den Boden und die Kristalle zu befühlen, Silvia tat es ihnen aus einer Laune heraus gleich. Die Erde war mit einer dünnen Schicht staubartiger Asche bedeckt, die weich auflag. Am Rand der Spalte, die etwas wärmer war als die Umgebung, strich sie über die erstarrte Lava: Obwohl sie ganz glatt schien, war sie wie fein angeraut, das konnte man tatsächlich nur fühlen, nicht sehen. Die gelben Schwefelkristalle dagegen waren hart und brüchig.
„Das ist erstaunlich, wie unterschiedlich sich das anfühlt. Ich hätte nicht gedacht, dass der Lavaboden so angeraut ist!“
Frank, der neben ihr hockte, wandte sich ihr zu: „Kinder, ich sage ja immer: ‚Was entgeht euch alles, nur weil ihr sehen könnt.‘“
Silvia war diese Reaktion ein bisschen unangenehm, aber an seinem Grinsen merkte sie, dass es nicht schroff oder unhöflich gemeint war. Schnell entgegnete sie:
„Wirklich erstaunlich. Ich werde mich jetzt öfter in unwegsamem Gelände mit drohenden Vulkanausbrüchen im Nacken hinknien und den Boden betasten!“, sie lachte kurz auf und freute sich, als auch er lächelte.
Als der Weg sie um den Hang eines Kegels führte, stoppte die Gruppe wieder. Es war überwältigend: Die klare eisige Luft gab einen großartigen Ausblick frei.
Gianni beschrieb der Touristengruppe die Sicht sehr anschaulich, sodass auch die Blinden eine Vorstellung gewinnen konnten: „Genau auf zwölf Uhr sehen wir in Richtung Nordosten einen grünen Streifen unserer bellissima isola siciliana, die Meerenge von Messina und die Spitze des italienischen Stiefels. Auf ein Uhr ist eine Stadt zu erkennen, das ist Taormina. Auf vier Uhr geht der Blick über das weite Mittelmeer, das ganz ruhig daliegt und von hier aus wie ein dunkelblauer Spiegel wirkt.“ Sebastian fügte hinzu: „Und wieder auf zwei Uhr“, alle, Blinde wie Sehende, drehten den Kopf zurück, „sehen wir alle ... gar nichts. Es ist nicht zu erkennen, aber dort liegt unser nächstes Ziel in Griechenland.“ Alle lachten, bis auf Familie Waldensrieth, die verächtlich durch die Nase schnaubte.
Gianni versorgte die Gruppe beständig mit Details darüber, was man sehen konnte, welche Pflanzen nur zu dieser Zeit hier wuchsen und wie die unterschiedlichen Staub– und Geröllarten hießen. Auch wusste er zu jedem Krater das Jahr seiner Entstehung.
Sie umrundeten einen der Hauptkrater des Ätnas, der wie eingefasst aus einem Schneefeld ragte, das unter ihren Füßen knirschte. Frau Menken konnte sich nicht mehr einkriegen: „Det is’ ja Wahnsinn! Heute Morjen noch in’ne Sonne jelegen, jetzt im Schnee stapfen!“ Auch Silvia machte es viel Freude über den Schnee zu gehen, die klare Aussicht auf das Meer zu genießen, wo der Frühsommer schon eingezogen war. „Ist unglaublich, dieser Unterschied, ein paar tausend Meter hoch und schon ist es wieder Winter.“ Immer wieder sah sie den Wölkchen nach, die ihr Atem hinterließ und scharrte mit den Füßen im Schnee. Viele Fotos wurden von allen Sehenden gemacht; die von Waldensrieths knipsten sich gegenseitig so oft, dass Silvia sich fragte, ob sie zu Hause auch genug von der einzigartigen Landschaft hinter den Personen erkennen konnten. Natürlich half sie ihnen auch aus, als es um ein gemeinsames Bild ging, auf dem der Kegel des Hauptkraters sehr anschaulich aus dem Kopf von Herrn von Waldensrieth herauswuchs. Auch die Blinden hatten einen großen Spaß – sie rutschten auf dem Schnee herum, formten Bälle, riefen sich zu und versuchten sich dann gegenseitig abzuwerfen. Immer wieder ließen sie sich von ihren Begleitern die Umgebung beschreiben.
Schließlich kamen sie zur anderen Seite des Kegels und begannen mit dem Rückweg.
Als sie vom Berg abstiegen und das Schneefeld weit hinter sich gelassen hatten, führte Massimo sie in ein steiles Gebiet voller Asche, durchsetzt mit kieselsteingroßen Lavabröckchen, den Lapilli.
Er machte der Gruppe vor, wie Menschen in der weichen, zentimeterdicken Staubschicht wie auf dem Mond den Berghang hinab springen konnten, halb hüpfend, halb rutschend. Es machte einen Riesenspaß! Silvia hatte nach kurzer Zeit eine Technik entwickelt, die es ihr erlaubte, immer gleich drei, manchmal sogar vier Meter voran zu gleiten. Auch Frau Menken juchzte und legte sich mehrfach in die schwarze Schlacke.
Plötzlich hörten sie einen Schrei, gefolgt von deutlicher Aufregung. Alle drehten sich in diese Richtung um und sahen Manfred mit seinen beiden Begleitern in der Asche liegen. Sie versuchten aufzustehen, was ihnen durch den weichen Untergrund sehr schwer fiel. Der Blindenführer aber stand nicht auf. Silvia eilte, wie der Rest der Gruppe, zu ihm – was nicht einfach war, denn bergauf hatte der Belag fast Treibsandqualität, so schnell zog er sie wieder abwärts. Dazu kam die dünne Luft, sodass das Ganze ihr einiges abforderte, aber sie kämpfte sich hoch. Gianni, Massimo und Sebastian waren bereits bei ihm und zogen das rechte Hosenbein langsam hoch, was von Stöhnen und Schmerzenslauten Manfreds begleitet wurde. Aus einer großen Wunde sickerte dunkelrotes Blut. Schlimmer: eine weiße Spitze ragte deutlich aus der Haut hervor. Ein Knochen. Manfred war über einen in der Asche verborgen liegenden Felsen gestürzt und hatte sich das Bein beim Fallen unglücklich verdreht. Er biss die Zähne zusammen, war ganz bleich: „Scheiße, das tut furchtbar weh. Ich gucke mal besser nicht hin, oder?“
„Nein, lass das. Schau in den Himmel, ist besser für dich!“ Auch Sebastian war ganz bleich geworden.
„Wie können wir helfen?“ Silvia schaute Gianni an.
Der Italiener holte aus seinem kleinen Rucksack ein Verbandsköfferchen hervor. Er schüttelte den Kopf: „Da ist mit unseren Mitteln nicht viel zu machen.“ Er legte eine Kompresse auf die Wunde und wickelte ganz vorsichtig eine Mullbinde darum, um die Wunde vor weiterer Verschmutzung zu schützen. Schon durch diese sachte Berührung verursachte er Manfred große Schmerzen.
„Es gibt einen Hubschrauberlandeplatz an der Bergstation der Seilbahn. Bis zum „Torre del Filosofo“ müssen wir ihn zu zweit tragen, da stehen die Unimogs. Gott sei Dank haben wir ja zwei Führer – einer