Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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am besten lagen, beschloss er, im Rechnen nicht alle Gebiete zu erarbeiten. Die Didaktik der Grundrechenarten verinnerlichte er und das Lieblingsgebiet des Professors. Er hoffte, das werde genügen. So verbrachte er die nächsten Wochen am Schreibtisch und in der Bibliothek. Eigentlich fühlte er sich gut gewappnet, als die Prüfungsphase begann. Im März war es soweit.

      Die Prüfungskommission erwartete ihn in dem Eckzimmer neben dem ehemaligen Rektorat. Er klopfte und öffnete die Tür. In den Strahlen der Vormittagssonne, die durch die beiden kleinen Fenster in den halbdunklen Raum drangen, bewegten sich Staubwolken in feierlichem Rhythmus, als tanzten sie langsamen Walzer. Außer dem Mathematikprofessor und dem Geographiedozenten, der Protokoll führen sollte, saß im Hintergrund ein Herr im schwarzen Anzug. Der Kragen seines gestärkten Hemdes kam direkt aus dem letzten Jahrhundert. Er beugte sich über einen Aktenordner und beachtete den Eintretenden nicht.

      Karl konzentrierte sich auf den Professor, den er als etwas unsicheren, aber äußerst freundlichen Lehrer in den letzten zwei Jahren erlebt hatte.

      „Herr Kuntze, guten Morgen! Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Der Fremde wurde ihm nicht vorgestellt.

      „Guten Tag.“ Karl setzte sich an den abgewetzten, dunklen Tisch und hoffte inständig auf die richtigen Themen. Neben den Grundrechenarten waren vor allem Fragen aus dem Gebiet der erst 1928 von Erich Kranke vorgestellten pragmatischen Mengenlehre genehm. Dieses Lieblingsgebiet des Frankfurter Mathematikers hatte er gepaukt. Die Einzelheiten des Grundlagenstreits in der Mathematik, der unter den Hochschullehrern ausgetragen wurde und sogar zu persönlichen Anfeindungen geführt hatte, waren ihm zwar ein Rätsel geblieben, aber die anschaulichen Anwendungsbeispiele der Mengenlehre hatten ihn fasziniert.

      Sein Prüfer räusperte sich und sah ihm in die Augen. Eine gewisse Unsicherheit in seinem Blick war nicht zu übersehen, was Karl irritierte.

      „Herr Kuntze, stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer vierten Klasse und wollen mit der Einführung der Bruchrechnung beginnen. Worauf müssen Sie besonders achten und welche Begriffe führen Sie als erstes ein?“

      Um Himmelswillen! Jetzt war die Situation eingetreten, die ihn in den letzten Nächten als Alptraum heimgesucht hatte. Genau dieses Thema hatte er in seiner Vorbereitung komplett ausgespart. Er hatte keine Ahnung, was er antworten konnte und spürte, wie das Blut erst absackte und anschließend seinen Kopf heiß werden ließ.

      „Ich lehne Bruchrechnen für die Grundschule ab!“

      Der Satz war draußen, bevor er hatte nachdenken können. Es war, als ob er sich selber zuhörte. Auf dem Gesicht des Professors breitete sich Erstaunen und so etwas wie Schreck aus. Er blickte kurz zu dem schräg hinter ihm aufrecht sitzenden Herrn, dessen Gesichtsausdruck große Überraschung verriet.

      „Na ja, wir sind ja hier im preußischen Frankfurt für Reformdiskussionen und Neues offen, auch wenn …“ Er zögerte kurz und nahm einen neuen Anlauf: „Nun gut, schildern Sie mir bitte die wichtigsten Axiome der Mengenlehre und ihre Anwendbarkeit in der Grundschule.“

      Gewonnen! Karl hätte fast gelacht, nahm sich aber zurück. Er war klug genug, nicht sofort loszusprudeln und sein Wissen im Eiltempo auszubreiten, sondern begann zögerlich.

      Er bestand die Prüfung insgesamt mit gutem Erfolg. Erst bei der Abschlussfeier erfuhr er von Bruno, dass die fremden Herren in den Prüfungsräumen Beamte des preußischen Kultusministeriums waren, die die Erfolge der jungen Akademien im ganzen Land unter die Lupe nehmen sollten.

      Nach der Prüfung saßen die vier Freunde zusammen und wunderten sich, wie rasend schnell die gemeinsame Zeit verflogen war. Thea und Bruno reisten am nächsten Tag in Richtung Heimat. Marianne gestand dem trotz gutem Examensergebnis betrübten Karl noch eine gemeinsame „Freundschaftsfahrt“ zu, das heißt eine der so geliebten mehrtägigen Wanderungen, die sie von Bad Orb in den Spessart und in eine einsame Jugendherberge mitten im Wald führte. Wieder wurde es Nacht, bis sie ein Quartier fanden, und leider war dies alles andere als einladend. Eine Jugendherberge in einem heruntergekommenen Schloss. Erst nach langem Klingeln erschien der mürrische Herbergsvater und brummte, dass eigentlich geschlossen sei. Er ließ sie schließlich hereinkommen.

      Sie mussten jeweils allein in den ansonsten leeren Schlafsälen für Jungen bzw. Mädchen nächtigen. Alles andere wäre unmoralisch und angesichts ihres Alters auch noch ein Verstoß gegen den Kuppeleiparagrafen des § 181 des Reichstrafgesetzbuches gewesen. Ob Marianne dies Alleinsein recht war? Sie schreibt darüber: „Mir war es schrecklich unheimlich in diesem bös verzauberten Schloss.“

      Vielleicht war sie aber froh, dass sie einander nicht wieder näherkommen konnten. Was hätten sie in dieser Waldeinsamkeit getan, wenn es wieder Probleme gegeben hätte?

      Zurückgekehrt nach Frankfurt trennten sich ihre Wege. Der Ausflug in die Ferne war vorübergegangen, und Karl hätte gern mehr als die Lehrbefähigung nach Berlin mitgenommen, aber Marianne blieb eisern.

      „Wir müssen erst richtig zu uns kommen und unser Leben neu sortieren, mein Lieber. Da würde eine Beziehung uns zu sehr vom Außen abschließen. Du wirst das irgendwann verstehen.“

      Das wollte er gar nicht und wusste auch nicht, was sie eigentlich meinte und wie er das mit dem Sich-selber-Finden anstellen sollte. Zunächst musste er allerdings in Berlin eine Unterkunft und seinen Onkel finden. Die ersten Tage konnte er bei Schröders wohnen und so erfuhr er aus erster Quelle von dem neuesten Projekt und der Gruppe, die sich ‚Rote Kämpfer‘ nannte. Das sei, so verstand er seinen Onkel, gewissermaßen der innere Kreis der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung. Natürlich würde er als sein Neffe dazugehören.

      Die Lehrbefähigung besaß er zwar und war dennoch darauf gefasst, angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation glücklich sein zu müssen, wenn er nach einer unbezahlten Hospitantenzeit eine armselig entlohnte Stelle als Schulamtsbewerber in Berlin bekommen würde. An eine richtige Lehrerstelle war ohnehin nicht zu denken. In Pommern wären seine Chancen noch schlechter gewesen. Außerdem fühlte er sich seiner Heimat definitiv entfremdet.

      So endete das erste Leben des Karl Kuntze in wirtschaftlicher und persönlicher Ungewissheit. Das einzige, was feststand, war, dass er nicht zurück in die Provinz gehen, sondern in Berlin am Nabel der Welt bleiben wollte.

      Das zweite Leben (1931 bis 1934) Rote Kämpfer

      Karl war nach Berlin zurückgekehrt, und er lebte wieder allein. Seinen 22. Geburtstag hatte er nicht groß feiern können, da er inzwischen berufstätig war. Als Absolvent der staatlichen Akademie hatte er tatsächlich eine Stelle als Schulamtsbewerber bekommen und war angesichts der auf fast 5 Millionen gestiegenen Zahl der Arbeitslosen froh, überhaupt Beschäftigung zu finden. Verlangt wurde eine volle Lehrertätigkeit, was den Berufsanfänger viel Zeit kostete. Mit den gegenüber hauptamtlichen Lehrern geringeren Bezügen, die infolge per Notverordnung angeordneter Kürzung der Beamtengehälter um 6 % noch weiter reduziert ausbezahlt wurden, konnte er sich einen bescheidenen Lebensunterhalt sichern.

      Zufrieden mit seiner Situation war er, weil er an der Volksschule der „Karl-Marx-Schule“ eingesetzt wurde, über deren Leiter, Fritz Karsen, er im Studium viel gehört und den er als Ikone der Schulreform begriffen hatte. Die Überwindung der Dreistufigkeit in den öffentlichen Schulen war eines der Anliegen der von Karsen vertretenen Bildungsrichtung. Hier an dieser Schule, so hoffte Karl, werde er viel von dem realisieren können, was er in der Akademie und bei der Exkursion über moderne Erziehung gelernt hatte. In seinen Erinnerungen schreibt er zu dem Klima in der Schule:

      „Etwa die Hälfte des Kollegiums war in der SPD und die andere Hälfte in der KPD organisiert. Stundenlange Diskussionen

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