Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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      Karl war inzwischen ein stattlicher Mann. Mit einer Körpergröße von über 1,80 m und der sportlich-schlanken Figur hatte er nicht nur Marianne beeindruckt. Von seinem Vater hatte er die hohe Stirn geerbt, die durch den an beiden Seiten des Kopfes etwas zurückspringenden Haaransatz einen ganz eigenen Schwung ausstrahlte. Die dunklen, fast schwarzen Haare kämmte er meist nach hinten, sodass diese dynamische Linie verstärkt zur Geltung kam.

      Seine dunkelbraunen Augen blickten freundlich-zurückhaltend in die Welt. Bei Diskussionen hörte er viel zu, mischte sich aber vehement ein, wenn er Ausführungen anderer skeptisch beurteilte.

      Er hätte nach seinem Umzug gerne Marianne wiedergesehen. Eine Adresse hatte sie ihm zwar nicht gegeben, aber er kannte ja die Wohnung der Boses in der Hasenheide, wagte jedoch nicht, sich dort zu melden. Viel Zeit für das erwünschte Privatleben hätte er allerdings nicht gehabt, da ihn die Arbeit voll ausfüllte.

      Nach der Ankunft in Berlin hatte er wieder Kontakt mit seinem Onkel aufgenommen. Er bewunderte diesen klugen und eloquenten Mann und war ihm gegenüber zugleich etwas befangen, weil er oft meinte, dessen hohen Ansprüchen nicht genügen zu können. Außerdem schmerzte es ihn trotz aller Hoffnungen auf eine Beziehung zu Marianne, dass Inge Schröder sich einem anderen Mann zugewandt hatte. Sie hatte ihn an der Wohnungstür nur kurz begrüßt. Die inzwischen fünfzehnjährige Ulla empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. Was für ein feiner Kerl sie doch ist, dachte er und schämte sich sofort. Sie war noch ein Kind.

      „Grüß dich, Karl. Schön, dass du wieder in Berlin bist. Ich hab leider gar keine Zeit. Vater ist in seinem Arbeitszimmer. Du kennst dich ja aus.“

      Nach diesen Worten war sie durch den langen Flur gehuscht und in ihrem Zimmer verschwunden. In ihrem Blick war noch die Enttäuschung zu erahnen, dass der Vetter sich beim letzten Aufenthalt in Polzin vor einem Jahr nur mit ihrer ältesten Schwester beschäftigt hatte. Sie war zwar damals noch sehr jung gewesen, aber was machte das schon? Nie hatte er bemerkt, wie sehr sie ihn bewunderte und liebte, und jetzt war es zu spät. Ulla wollte gern einen Mann heiraten, aber der geliebte Vetter war gedanklich weit weg und mit einer anderen Frau liiert, hieß es. Sie hasste die Unbekannte.

      Den Onkel fand Karl in seinem Arbeitszimmer an dem vor dem Erkerfenster stehenden Schreibtisch, der noch voller zu sein schien als vor zwei Jahren. Karl Schröder fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare und holte tief Luft. Er verbarg seine Freude über den Besuch hinter einem intensiven Blick. Unter seinem stattlichen Schnurrbart verzog sich der Mund langsam zu einem Lächeln.

      „Na, mein lieber Neffe, kann man dich nun auf die Menschheit loslassen, Du Herr Lehrer? Komm her und lass dich umarmen!“

      Er drückte ihn heftig und klopfte väterlich seinen Rücken. Als sie zwei Stühle freigeräumt und sich gesetzt hatten, langte er seine Pfeife vom Fensterbrett und begann, sie zu stopfen.

      Karl Schröder, der Sohn des Patriarchen Richard, hatte es bedauert, keinen Sohn gezeugt zu haben. Dies war mit Grund dafür, dass er sich intensiv um seinen Neffen kümmerte. Schröder war ein Spross des 19. Jahrhunderts, und in seiner Familie wurden den Mädchen wie selbstverständlich nicht die gleichen Bildungschancen eingeräumt wie ihm, dem einzigen Sohn. Er hatte studieren dürfen, die zwei Schwestern nicht. Irgendwie muss er diese Einstellung verinnerlicht haben, denn auch seine drei Töchter erhielten keine Unterstützung bei ihren Studienwünschen.

      Karl genoss die Aufmerksamkeit dieses Onkels sehr, der so viel mehr zu vermitteln hatte als sein eher schlichter Vater. Schröder verkörperte für ihn seit den Berliner Schülerjahren eine intellektuelle Herausforderung und ein Vorbild an Klarheit.

      „Ich habe sogar eine Stelle in der Karl-Marx-Schule.“

      „Na, wenn das kein gutes Vorzeichen ist.“

      Über den Jan Beek und seinen Anschlag auf den Lokomotivführer Wal Kuntze mochte Karl nicht sprechen. Er hätte nicht gewusst, wie er seine persönliche Betroffenheit in eine sachliche Kritik hätte verpacken können. Das spielte aber keine Rolle, da der Onkel angesichts der Zuspitzung der politischen Situation andere Dinge im Kopf hatte als seine literarischen Reminiszenzen an den Generalstreik von 1920. Er setzte die Pfeife in Gang und begann anschließend zu dozieren.

      „Jetzt muss ich dich aber gleich auf das Laufende bringen. Die politische Arbeit duldet keinen Aufschub. Pass einmal auf!“

      In den Kreisen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung hatte sich seit der Abreise Karls einiges verändert. Schröder und die anderen führenden Köpfe und KAPD-Aktivisten Reichenbach und Schwab hatten bereits 1929 erkannt, dass der Kapitalismus und die bürgerliche Republik sich in einer entscheidenden Krise befanden. Gleichzeitig war ihnen klar, dass die Arbeiterklasse in ihrer derzeitigen Zersplitterung diese Krise nicht für die eigentlich fällige Revolution nutzen konnte.

      Für sie stand fest, dass ein diktatorisches Regime der immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu erwarten war und dass dieses keine kurzfristige und sich gewissermaßen von selbst erledigende Angelegenheit werden würde. Dazu genossen die Nazis zu starke Unterstützung durch das Großkapital. Man werde sich auf eine lange Phase der Illegalität einrichten müssen. Hierzu hatten sie akribische Vorbereitungen getroffen.

      Der zweiundzwanzigjährige Karl kam in dieser Situation nicht dazu, viel aus dem eigenen Leben zu erzählen, da der Onkel ihm nach der Begrüßung sofort ein Manuskript in die Hand drückte und erklärte, was zu tun sei. Er zitierte hierbei bewusst Lenins bekannte Schrift von 1902, denn schließlich ging es auch ihm um die Bildung einer Organisation der Avantgarde, die die Geschichte vorantreibt.

      „Also Karlchen, jetzt hör einmal zu! Was tun? Die Zeiten haben sich geändert. Mit Arthur Goldstein und Peter Utzelmann habe ich im letzten Jahr einmal zusammengefasst, worauf es heute ankommt.“

      Auf zwei hektographierten Blättern war die Überschrift zu lesen: „Grundlinien für Gruppenarbeit“. Weiter kam er nicht, denn der Onkel fuhr fort:

      „Wir müssen einen konspirativen Kern von Menschen bilden, die die Idee des Sozialismus bewahren und weitertragen, bis wieder Zeiten anbrechen, in denen an ihre Umsetzung gegangen werden kann. Dazu müssen wir im ganzen Reich kleine Gruppen bilden.“

      „Ja, aber die Proletarier, was ist mit denen?“

      Karl war selber überrascht, als er diese Frage gestellt hatte. Sie lag aber durchaus nahe. Nach den in vielen Vorträgen verinnerlichten theoretischen Grundlagen bedurfte es für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einer revolutionären Situation und eines Subjekts, diese Situation zu nutzen: das waren die Arbeiter! Ohne die Massen des Proletariats war eine Revolution undenkbar! Dieser Satz gehörte zur Grundüberzeugung der Rätekommunisten, gewissermaßen zu ihrem Glaubensbekenntnis.

      „Daran haben wir natürlich gedacht, was glaubst du denn? Hier lies!“

      Die Passage, auf die Schröder hinwies, lautet: „Die Gruppen bezwecken die kollektive Zusammenfassung von aktiven, in unserem Sinne oppositionellen Genossen. Unter aktiven Genossen sind in erster Linie solche zu verstehen, die bereits als Einzelne den oppositionellen Kampf innerhalb ihrer Organisation geführt haben und noch führen. Jede Gruppe braucht, abgesehen von unserem Vertrauensmann, wenigstens einen solchen Genossen, um sich ihre Aufgaben stets klar zu stellen. Ihre politische Bedeutung nimmt allein zu mit der Anzahl der aktiven Genossen.“

      „Wer, meinst du wohl, sind diese aktiven Genossen?“ Schröder sah seinen Neffen streng an.

      „Na ja, ich denke, das sind wir und die anderen von der SWV.“

      „Nein, wir stellen

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