Die Suizid-App. Peter Raupach
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Allein die Geschichte des neuen Wirkstoffes war schon spektakulär.
Innerhalb des von der Regierung ursprünglich geförderten Forschungsprojektes zur Behandlung von depressiven Soldaten mit posttraumatischem Syndrom, war aufgrund gewonnener Erkenntnisse eine Abspaltung einer völlig anderen Forschungsrichtung erfolgt. Die neu gebildete Arbeitsgruppe nutzte geschickt ihre Verbindungen zu Finanzexperten. Und so kam es, dass die Regierung letztlich eine von ihr nicht genehmigte Forschung mitfinanzierte.
Das Präparat 463 war von einer Arbeitsgruppe mit der Bezeichnung „DRUG-BRAIN-MODULATION“ aus einer Vielzahl von neuen Wirkstoffen ausgewählt worden. Diese Arbeitsgruppe gab es offiziell nicht und hunderte Beschäftigte im Pentagon taten ihr Übriges dafür, dass niemals auch nur ein Kongressabgeordneter davon erfahren würde.
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Präparat in höherer Dosierung steuerbare Amnesien auszulösen vermag, das heißt, man würde möglicherweise in die Lage versetzt werden, bei den Soldaten Erinnerungen löschen zu können, kam es sofort in den speziellen Focus einiger Militärs. Ein weiteres Novum bestand darin, dass die Soldaten unter dem Einfluss des Präparates voll handlungsfähig bleiben würden, was man von Drogen, Alkohol und aufputschenden Substanzen nicht behaupten konnte. Unmittelbar nach dem Kampfeinsatz würde somit jederzeit ein neuer Einsatz stattfinden können, ohne dass sich der Teilnehmer zeitlich und inhaltlich an den vorangegangenen Einsatz erinnern könnte. Die große zu lösende Frage war nun, ob die praktisch stattfindende „Überschreibung der Erinnerungsdaten“ im Gehirn dauerhaft sein würde.
Die Abweichler hatten in der Folge weiter ungeheures Forscherglück. Schon kurze Zeit später beobachtete man bei den Probanden, bei denen in kürzeren Zeitabständen Dosiserhöhungen vorgenommen worden waren, eine enorme Zunahme von kognitiven Fähigkeiten.
Doch nicht nur das, über Stunden hinweg hatten viele von ihnen eine unglaubliche Steigerung des Hörvermögens, das denen von Hunden gleichkam. Das Geruchsvermögen verdoppelte sich und die Probanden erhielten kurzzeitig die Fähigkeit, bei absoluter Dunkelheit etwas sehen zu können.
Doch die unglaublichste Nebenwirkung des Medikamentes erfuhr Schönherr erst heute. Zuerst wollte er es nicht glauben, aber als allen Anwesenden ein Filmbeitrag vorgeführt wurde, wurde es auch für ihn zur Gewissheit. Nun begann er zu verstehen, weshalb man bereit war, jegliches Risiko einzugehen.
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
„Im Moment keine Besucher, Medikation Citalopram 40, abends Haloperidol 2 Milligramm, auf Wunsch auch ein Z-Hypnotikum. Nach drei Tagen wie immer unser Programm. Und nicht vergessen, Sie kennen meine Meinung, bei versuchtem Suizid kommt mir bitte kein Anfänger ran an den Patienten, die sollen woanders Erfahrungen sammeln. Also geben sie Doktor Mertens Bescheid, noch irgendwelche Fragen?“, fragte Professor Goldstein, Leiter der Klinik, routiniert. Dabei drehte er sich auf dem Absatz um und war schon im Begriff das Patientenzimmer zu verlassen.
„Herr Professor, gestatten Sie die Bemerkung, der Patient hatte ein Präparat bei sich. Wahrscheinlich eine Studie. Ich glaube, wir sollten hier nicht überreagieren. Als der Patient ansprechbar war, teilte er mit, dass sein Hausarzt Doktor Schwenker ist. Der Kollege hat seine Belegbetten bei uns in der zweiten Etage. Deshalb schlage ich vor, statt Citalopram Beibehaltung der Medikation von Doktor Schwenker und abends sowie zur Nacht, wie von Ihnen festgelegt“, empfahl der Oberarzt selbstbewusst.
„Einverstanden, kein Problem, schirmen Sie ihn mir nur gut ab. Ich möchte keine hysterischen Verwandten hier und die Lokalpresse bekommt keinerlei Auskunft. Wir sind kein Aquarium, wo sich alle die Nasen dran platt drücken und die Fische beim Laichen beobachten können.“
Der Professor, der bereits sein siebzigstes Lebensjahr überschritten hatte, liebte diese ins Maritime gehenden Vergleiche. Alle Mitarbeiter der Abteilung kannten diese Marotte des Professors und fürchteten sie zugleich. Denn wenn er anfing, von seinen Tauchexkursen vor der Küste Kenias zu erzählen, konnte man selbst dringend zu erledigende Aufgaben getrost vergessen.
„Ach, sagen Sie, wann war denn die Polizei raus? Ich hasse solcherlei Störungen in meinem Haus seit ich im August…warten Sie siebenundsechzig, nein…das muss doch neuzehnhundertneunundsechzig…“
„Die waren, wie immer nach der Protokollaufnahme nach etwa dreißig Minuten draußen.“
Doktor Renner hielt dem Professor in vorauseilender Höflichkeit die Tür auf.
„Wie auch immer, ich mag diese Leute nicht in meinem Haus“, beharrte der Professor und war schon auf dem Flur, in Richtung des gegenüber liegenden Patientenzimmers.
Felix dämmerte im Haloperidol-Schlaf bis pünktlich drei Uhr nachts. Er wurde nicht wach, weil sich der Fernseher ausschaltete, er wurde wach, weil es drei Uhr nachts war.
Mit dem Infusionsschlauch kann ich wenig machen und die Fenster sind auch vergittert, war sein erster Gedanke.
Sein Blick glitt vom Infusionsschlauch hinunter zu der in einer seiner Venen steckenden Kanüle. Sie war mit einem weißen Pflaster auf seinem Handrücken fixiert.
Das gibt eine riesige Schweinerei, wenn ich mir damit die Blutgefäße aufritze. Aber leider dauert das dann eine Ewigkeit bis endlich der Tod eintritt. Außerdem kann mich die Nachtschwester überraschen, dann werde ich womöglich noch fixiert und mit starken Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Nein, nein, ich muss hier mitspielen, wenn ich hier raus will. Ich finde dann draußen schon einen besseren Weg, mein Leben zu beenden. Felix, sei einfach geduldig, dachte er und schlief wieder unruhig ein.
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