Die Suizid-App. Peter Raupach
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„Entschuldigung, kein Problem, ich habe dafür Verständnis. Ich möchte Ihnen trotzdem noch kurz einen wichtigen Hinweis geben, den man bei Antidepressiva bedenken sollte. Da ich bei Ihrem Medikament nicht weiß zu welcher Gruppe es gehört, kann es nur ein allgemeiner Ratschlag sein. Also es gibt zwei Arten von diesen Medikamenten. Die einen beruhigen und bremsen die Aktivität. Beruhigen, das heißt sie sedieren. Das ist jedoch nicht unbedingt gleichzusetzten mit müde machen. Die Angstzustände und anderen Beschwerden verschwinden in frühestens drei Wochen. Die andere Gruppe wirkt relativ schnell aktivitätsfördernd. Die eigentlichen depressiven Symptome verschwinden aber auch erst in…äh, okay warten Sie, ja in frühestens zehn bis vierzehn Tagen. Man braucht also etwas Geduld. Im Übrigen sollte man bei der letzteren Gruppe unter Leute gehen, sich ablenken, etwas tun, was man schon lange nicht mehr gemacht hat.“
„Weshalb wird das denn gerade bei der letzten…Sie nannten sie die, die Aktivität steigert, so empfohlen?“, fragte Felix interessiert.
„Na ja, das ist allemal besser, als zuhause zu sitzen und negative Gedanken zu bekommen…“, antwortete der Apotheker vorsichtig. Als er jedoch den fragenden Gesichtsausdruck von Felix bemerkte, fügte er hinzu:
„Nun gut, das überschreitet hoffentlich nicht meinen Kompetenzbereich, aber Sie haben gefragt.
Also, bei der Gruppe von Antidepressiva, die die Aktivität steigern, gibt es eine Gefahr…eine wahrscheinlich geringe Gefahr. Man könnte es sicher auch fachchinesisch als unerwünschte Wirkung umschreiben. Es besteht eine erhöhte Suizidgefahr…
Ähm, verstehen Sie? Es gibt Patienten, bei denen bewirkt die Aktivitätssteigerung, dass sie einen depressiven Entschluss, sich umzubringen, in die Tat umsetzen. Vor allem, wenn die Wirkung noch nicht antidepressiv ist, also in dem Zeitfenster von zehn bis vierzehn Tagen, da ist die Gefahr durchaus gegeben. Deshalb lässt man Jugendliche in dieser Zeit eben besser nicht allzu oft allein.“
„Okay…verstehe, nein, nein…das trifft alles für mich nicht zu. Aber haben Sie Dank! Auf Wiedersehen.“
Wie er aus der Apotheke gekommen war und ob er sich verabschiedet hatte, dass alles wusste Felix bereits nach Minuten nicht mehr.
Nachdenklich lief er durch die Straßen, dabei bemerkte er einen zunehmenden Kopfschmerz, auch schwindelte ihm leicht. Der Schmerz wurde stärker und wütete nun als stechender Krieger.
Nun ärgerte er sich, dass er in der Apotheke nicht gleich ein paar Schmerztabletten gekauft hatte. Von den Erfahrungen der Teilnehmer der Selbsthilfegruppe wusste er, dass Kopfschmerzen und Schwindel durchaus Nebenwirkungen zu Beginn einer Behandlung mit Antidepressiva sein konnten.
Die Kopfschmerzen wurden nach ein paar weiteren Minuten so stark, dass Felix aufstöhnte und seinen Handrücken auf die Stirn drückte. Schon halb blind vor Schmerz betrat er kurz darauf die nächste Apotheke. Die Apothekerin nickte freundlich und meinte:
„Lassen Sie mich raten, sie brauchen ein Schmerzmittel!“
„Ja, bitte…und es soll schnell wirken…und wenn Sie so lieb sind, bitte gleich ein Glas Wasser dazu.“
„Kein Problem, ich empfehle Ihnen Paracetamol. Möchten Sie zehn oder zwanzig Tabletten?“
„Ich nehme drei Packungen mit zwanzig“, sagte Felix.
Während Felix bezahlte, erklärte die Apothekerin:
„Bitte überschreiten Sie nicht die Maximaldosis von vier Gramm pro Tag, sonst könnten Sie Ihre Leber schädigen. Ansonsten ist Paracetamol gut verträglich. Einen Wasserspender finden Sie dahinten neben der Eingangstür.“
Felix ging zum Wasserspender und fragte:
„Weshalb gibt es eigentlich von diesem Mittel nur so kleine Packungen?“
Die Apothekerin war schon auf halbem Weg in einen der hinteren Räume, drehte sich um und sagte:
„Gute Frage…, bis vor einigen Jahren gab es tatsächlich größere Packungen. Der Gesetzgeber hat dies jedoch geändert. Ich sag‘s Ihnen frei heraus: Es gab zu viele Suizide, also Selbstmorde damit. Da reichen leider schon einige Tabletten. Bestimmt kein schöner Tod, so ein Leberversagen. Natürlich ist das nicht die offizielle Version, aber ich sage immer, wer sich umbringen will schafft das auch.“
„Also ehrlich gesagt interessiert es mich mehr, ob…“, Felix verzog kurz das Gesicht als er zwei Tabletten mit einem Schluck Wasser herunterschluckte, „also ob diese Schmerzpillen sich mit Pillen gegen eine Depression vertragen werden“, dabei hielt er kurz seine Schachtel mit dem Präparat 463 hoch. Die Apothekerin schaute nun doch interessiert über Ihren Brillenrand, umrundete den Verkaufstresen und kam zwei Schritte näher. Felix aber winkte ab, schien seine Frage bereits vergessen zu haben und steckte die Schachtel wieder in seine Jackentasche.
„Es nennt sich 463…und soll was Neues sein…hab mich schon bei der Konkurrenz erkundigt…wird schon schief gehen. Schönen Abend noch.“, murmelte Felix, drehte sich etwas steif wirkend um und verließ die Apotheke.
Die Apothekerin sah angestrengt durch das Schaufenster hinaus auf die Straße. Es regnete und der schwarzglänzende Asphalt wurde von Zeit zu Zeit durch die Autoscheinwerfer in stumpfgraue Streifen zerteilt.
Die Schritte des letzten Kunden wirkten unsicher und man hätte meinen können, er sei betrunken.
Mit zitternder Hand griff die Apothekerin in die Kitteltasche nach dem Handy.
Auf was hatte sie sich da eingelassen, war es das wirklich wert? Doch sie brauchte das Geld, denn die Geschäfte liefen schlecht und die Bank machte Druck.
Trotzdem musste sie jetzt unbedingt den Vertreter von UCD informieren. Die Firma United Company of Drugs and IT, kurz UCD, galt in Fachkreisen als so genannter forschender Arzneimittelhersteller, der sich mit einer überaus seriös wirkenden und äußerst innovativen Aura umgab. Die Mutterfirma produzierte seit den neunziger Jahren in Tschechien vorrangig Psychopharmaka. Forschung, Logistik und Vertrieb erfolgten von Deutschland aus. Die Administration allerdings befand sich in den USA. Die Aufteilung der Geschäfts-und Produktionsbereiche warf in Fachkreisen immer mal wieder Fragen auf, wurde jedoch mit einer optimalen Ausnutzung steuerlicher Bedingungen begründet. Elisa Maria von Bärenfels, Inhaberin der Apotheke am Regina Filmtheater, wusste es jedoch besser. Hartnäckiges Fragen hatte sie der Wahrheit etwas näher gebracht. Sie wusste von Berger, dem persönlichen Ansprechpartner der UCD für sie, dass es weniger um steuerliche Vorteile, vielmehr um gesetzliche Unterschiede in den einzelnen Staaten ging. Trat die Firma zum Beispiel als Sponsor für Arzneimittelstudien am Menschen auf, so wäre sie in den USA gesetzlich dazu verpflichtet, den Namen der Firma zu offenbaren. In Deutschland gab es dieses Gesetz nicht. Was in den Staaten streng verboten war, galt in Deutschland und anderen Ländern nicht und umgekehrt. Dazwischen gab es zu nutzende Grauzonen, mit denen sich allein zwei unabhängige Rechtsabteilungen zu beschäftigen hatten. Aus einer dieser Abteilungen stammte letztlich auch der Vertrag, den Elisa Maria unterzeichnet hatte. Am Tag der Unterschrift lieferte sie bereits je fünfundzwanzig Packungen des Präparates 672 an die teilnehmenden Ärzte. Es war ein Vorgängerpräparat dessen, was der eben verabschiedete letzte Kunde ihr gezeigt hatte.
Sie suchte in der Kontakteliste ihres Handys das Wort Notfallmanagement