Die Suizid-App. Peter Raupach

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Die Suizid-App - Peter Raupach

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      Nachtfalter und Mücken umkreisten die brummenden Neonleuchten im Hausflur. Er war jedes Mal froh, wenn er diese Lieferung hinter sich hatte. In den letzten Wochen war ihm dieser Kunde zu unheimlich geworden.

      Ein Teil der Gardine warf scherenschnittartige Schatten auf den Boden. Sie war seit Wochen im Fenster eingeklemmt.

      Es begann zu regnen. Die flackernden Schatten wurden trüb.

      Felix rutschte in die Nacht. Die Zeitschaltfunktion des Fernsehers funktionierte tadellos, Punkt drei Uhr nachts erlosch der Bildschirm, um sechs Uhr flammte das blassblau flackernde Licht wieder auf.

      Felix musste den Kopf nicht heben, denn der Couchtisch vor ihm ließ eine Sicht auf das Fernsehbild zu. Nur eine kleine Schachtel und sein iPhone bildeten einen imaginären Höhenzug.

      Im Internet hatte er gelesen, dass es sich bei einer Depression um eine ernste behandlungsbedürftige Erkrankung handeln würde, deren Symptome sich der Beeinflussung durch Willenskraft entziehen würden.

      Es sollte angeblich verschiedene Formen geben.

      Der Arzt gab ihm die kleine Schachtel, die jetzt neben dem iPhone lag, mit den Worten:

      „Das wird schon wieder, haben Sie Geduld. Ach ja, in Ihrem Fall mache ich mal eine Ausnahme. Da Sie noch relativ jung sind mit Ihren 37 Jahren, gebe ich Ihnen ein neues Mittel mit, welches nicht müde macht. Wenn es Ihnen bekommt, können Sie bald wieder arbeiten gehen. Aber vorsichtig! Es ist stark, da reicht eine. Und hören Sie, keinen Alkohol dazu! Schwester, ich brauche noch den Befund von Frau…Ach Herr….schönen Tag dann noch, äh gute Besserung.“

      Erst draußen vor dem Haus der Arztpraxis bemerkte er, dass ihm der Arzt zusammen mit der Schachtel Tabletten eine kleine Werbekarte mit der Adresse einer Selbsthilfegruppe gegeben hatte.

      Er nahm sein Telefon und tippte die Nummer ein. Nach mehrmaligem Läuten ging der Anrufbeantworter an:

      „Hallo Hilfesuchender, unser Büro ist täglich geöffnet von zehn bis sechzehn Uhr, außer samstags und auch nicht an den Sonn- und Feiertagen. Die Selbsthilfegruppe trifft sich jeden Freitag sechzehn Uhr. Mindestens ein Psychologe und Lebensberater ist jeden Freitag mit dabei. Falls Du in großer Not bist, wähle bitte die folgende Nummer von Doktor Schwenker, die lautet…“

      Felix legte auf, dabei glitt sein Blick auf die Uhrzeit, es war drei Uhr nachts. Etwas hatte ihn geweckt. Ach ja, der Fernseher hatte sich abgeschaltet, dachte Felix verwirrt.

      Er ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Ohne nachzudenken nahm er eine der benutzten Tassen, füllte sie zur Hälfte mit Rum, warf einen Teebeutel hinein und goss etwas heißes Wasser aus dem Schnellkocher darüber.

      Felix wollte nun möglichst schnell etwas über die Selbsthilfegruppe erfahren. Deshalb balancierte er die Tasse ins Wohnzimmer und setzte sich wie fast jede Nacht an seinen Laptop.

      Der übernächste Freitag

      Endlich hatte er sich nun doch aufgerafft. Es dauerte fast zwei Stunden bis er rasiert und geduscht war. Nun stand er mit freiem Oberkörper vor dem Badspiegel und begutachtete sich. Ihm begegnete ein noch immer fast faltenfreies Gesicht, in dem der Zweifel saß, vielleicht war es auch Angst. Doch das wollte er vor sich nicht zugeben. Seine braunen Haare trug er früher immer kurz und sauber gescheitelt. Neben dem Dresscode wollte auch dies sein Arbeitgeber so. Jetzt waren seine Haare mehr als doppelt so lang und begannen, sich an den Enden leicht zu kräuseln. An der linken Schläfe entdeckte er eine weiße Strähne. Er nahm dies hin, früher hätte er sich darüber geärgert. Nun zögerte er noch, da er im Moment nicht wusste, wie er sein Haar tragen sollte. Doch ein Blick auf seine vor ihm unter dem Spiegel liegende Armbanduhr sagte ihm, dass er bis zum Beginn des Treffens nicht mehr viel Zeit hatte. Deshalb kämmte er seine Haare einfach nach hinten. Jetzt sehe ich aus wie einer dieser Theaterkritiker oder Kleinstadtkünstler, dachte er sarkastisch. Die Auswahl der richtigen Kleidung gestaltete sich dagegen für Felix noch schwieriger. Früher musste er nicht lange überlegen. Seine Frau Simone hängte ihm Anzug, Hemd und passenden Schlips morgens in den Flur. Er musste sich nur um seine Socken und die Unterwäsche kümmern. In seiner Arbeitswelt galt man nur in grauem, blauem oder schwarzem Tuch als angezogen. Aber was trug man unter Leuten in einer Selbsthilfegruppe?, fragte sich Felix verunsichert. Doch dann erinnerte er sich an einen weinroten Freizeitpullover. Den hatte Simone ihm zu seinem zweiunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Seitdem lag er ganz oben im Schrank. Er hatte ihn nie getragen, weil er sich in seiner Freizeit dabei zuhause wie in eine Fernsehsoap vorgekommen wäre. Doch angezogen erwies sich der Pullover nun für Felix als Desaster. Felix starrte in den Spiegel und beim Anblick der wegen des spitzen Ausschnittes herausschauenden Brusthaare, sagte er halblaut zu sich selbst: „Das geht ja gar nicht!“

      Doch er hatte keine andere Wahl, ein Anzug kam nicht in Frage, er besaß praktisch kein Hemd mehr in gewaschenem Zustand und alle Shirts waren verschwitzt, da er darin meist schlief.

      Also entschloss er sich, so zu bleiben und seine Lederjacke bei dem Treffen nicht abzulegen.

      Dann, schließlich, war er bereit zu gehen. Doch an seiner geöffneten Wohnungstür zögerte er, Minuten vergingen. Langsam waberte der Geruch von Eintopf und Reinigungsmitteln aus dem Hausflur vorbei an Felix in die Wohnung. Felix konnte nicht gehen. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn zurück.

      Seit zwei, oder waren es drei Wochen, hatte er die Wohnung nicht mehr verlassen, dachte er und merkte, wie sich sein Armmuskel verkrampfte. Seine Hand, die die Wohnungstür offen hielt, wurde weiß und schmerzte. Er fühlte kalten Angstschweiß auf der Stirn. War es die Ungewissheit über die Dinge, die da draußen auf der Straße warteten oder war es die im Kopf gesetzte Grenze seines Lebensterritoriums, welches hier an der Wohnungstür seine Grenze fand? Felix wusste es nicht.

      Es gab nur einen Weg für Felix aus der Wohnung zu kommen. Er kannte dieses Gefühl, er hatte alles schon viele Male, seit seine Frau Simone nicht mehr da war, durchlebt. Er musste sich selber austricksen. Also schloss er wieder langsam die Tür von innen. Dann zwang er sich zur Ruhe und holte sein

      iPhone aus der Hosentasche. Er rief sich ein Taxi und nannte neben der Hausnummer auch die Etage, da die Klingel unten defekt sei.

      Dann wartete er lauschend an der Wohnungstür. Er wusste, dass sich der Taxistand keine hundert Meter von dem Mietshaus in der Westendstraße entfernt befand. Deshalb würde mit dem Taxi innerhalb kurzer Zeit zu rechnen sein.

      Nach wenigen Minuten hörte Felix, wie jemand geräuschvoll die Treppen im Hausflur heraufkam. Felix hielt die Tür geöffnet und tat so, als ob er gerade die Wohnung verlassen wollte. Der Taxifahrer schaute etwas erstaunt, dass er wegen eines jüngeren Mannes ohne Gepäck die ganzen Treppen hochgestiegen war.

      „Tja, tut mir leid, aber die Klingel ist unten am Eingang defekt. Und man weiß ja nie, wann das Taxi kommt. Ich stand auch schon bei regnerischem Wetter zwanzig Minuten vor der Haustüre“, versuchte Felix sich halbherzig zu entschuldigen.

      Die gesamte Fahrt über fühlte sich dann der Taxifahrer dazu berufen, über Probleme des Taxiverkehrs in Regensburg zu erzählen. Bereits nach zehn Minuten entschied sich Felix innerlich dagegen, jemals selbst ein Taxi zu fahren. Das berufsmäßige Taxifahren schien ihm eher so ein Job zu sein, der zwischen Dazuverdienst für Studenten und Leuten, deren Karriere einen Knick aufweist, anzusiedeln ist. Oder aber es handele sich um eine Selbsttherapie von mäßig gestörten Persönlichkeiten, die das Dienen und den Service für andere gerne mit Macht über andere verwechselten. Denn allzu häufig war es Felix früher schon passiert, dass der Taxifahrer irgendwie

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