Die Stunde, eh' du schlafen gehst. Ханс Фаллада
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Der Arzt sah zweifelhaft drein. Doktor Altpeter fragte: »Und das Allgemeinbefinden, Herr Kollege?«
»Oh, das ist in Ordnung! Die paar Kontusionen brauchten nur ein wenig Heftpflaster. Die Temperatur kaum erhöht. Sie hat auch eine Kleinigkeit gegessen, etwas Toast und Tee und ein Ei, glaube ich. Nein, insoweit ist alles in Ordnung. Aber …«
Er sah die beiden Herren zweifelnd an. »Aber?« fragte Doktor Altpeter höflich.
»Aber, die Wahrheit zu sagen, wir sind in einiger Verlegenheit, was wir mit dem jungen Mädchen anfangen sollen. Hier ist die chirurgische Station, und wir sind ziemlich belegt. Zur Not können wir sie noch einen Tag behalten, aber dann …«
»Kann sie nicht in die Nervenabteilung überwiesen werden?« erkundigte sich Altpeter.
»Natürlich. Nur, es wird da vielleicht einige Schwierigkeiten geben: kein Name, keine Angehörigen, keine Nachtsachen, nicht einmal eine Zahnbürste …«
»Was das Finanzielle angeht«, sagte Babendererde rasch, »springe ich gerne ein. Ein bißchen Nachtzeug ist leicht beschafft, und auch was die Kurkosten angeht, bitte ich ganz über mich zu verfügen.«
»Oh, wegen des Geldes müssen Sie sich keine Sorgen machen! Die junge Dame hatte immerhin gegen achthundert Mark in der Tasche. Scheint sich für einen längeren Aufenthalt in Berlin eingerichtet zu haben. Nein, es handelt sich darum, mit ihren Angehörigen in Verbindung zu kommen.«
»Sie haben in Lübeck angefragt?«
»Ja, und wir haben auch schon Bescheid: keine Vermißtmeldung. Was machen wir nun?« Er sah den Schauspieler auffordernd an. Als der aber schwieg, fuhr er vorsichtig fort: »Wir haben Ihren Wunsch respektiert, Herr Babendererde, und in Lübeck noch nichts von Ihren Mitteilungen gesagt. Der Chef, Professor Eicken, meint aber – vielmehr, er läßt Sie bitten, uns jetzt von diesem Schweigegebot zu entbinden.«
Babendererde stand nachdenklich da. Doktor Altpeter sagte überredend: »Ich finde auch, Gerd, das könntest du ruhig tun. Es ist ja nichts Entehrendes, der Mutter mal auszureißen.«
Und der junge Arzt: »Sie übernehmen unter Umständen eine erhebliche Verantwortung. Die Verwandten könnten Ihnen später Vorwürfe machen.«
»Ganz das, was ich ihm schon gesagt habe!« rief Altpeter.
Babendererde sagte: »Erst möchte ich sie einmal sehen, Herr Doktor. Vielleicht können Sie mich ein paar Minuten mit ihr allein lassen? Ich hoffe, sie reagiert auf mich.«
Die beiden Ärzte wechselten einen raschen Blick. Dann sagte der junge Doktor: »Bitte schön, ich habe da keine Bedenken. Wenn ich vorausgehen darf?«
Sie gingen zu dritt über den langen weißen Korridor. Manche Türen standen offen, beim Schein von Nachtlampen sah man Schwestern neben Betten sitzen, auf denen Weißverhülltes stumm oder schmerzlich seufzend lag. Es roch stark nach Verbandzeug, nach Jodoform, Äther, Karbol – ein Gemisch von Gerüchen, das Babendererde nicht ungern atmete. Wie viele Menschen erregte ihn dieser Geruch, der an Wunden und Schmerz erinnerte, rührte an seinem Lebenswillen, machte ihn bewußter und wacher.
Vor einer Tür blieb der Arzt stehen.
»Wir haben ihr ein Einzelzimmer gegeben«, sagte er. »Auch eine Nachtschwester ist bei ihr, für den Fall, daß sie doch sprechen sollte, und …«
»Zur Beobachtung?« fragte Doktor Altpeter.
»Ja, gewiß.« Und leise zum Kollegen: »Die Wahrheit zu sagen, wir sind eine Spur zweifelhaft – wegen des Schocks, Sie verstehen?« Der junge Arzt öffnete die Tür: »Bitte sehr, meine Herren.« Und zu der Kranken: »Sehen Sie, da ist Herr Babendererde schon, er ist direkt vom Theater hergekommen. Er hat einen Arzt mitgebracht, solche Sorgen machen Sie ihm.«
Die Schwester war vom Bett zur Seite getreten. Die Kranke lag auf dem Rücken, das Gesicht sehr weiß im Kranz der dunklen Haare. Sie sah nicht auf den Besucher, sie blickte gerade vor sich hin, über das Fußende des Bettes fort, in einen Winkel des Zimmers, ins Ziellose.
Das gedämpfte Licht der Nachtlampe erhellte ihr Gesicht: der Mund war so fest geschlossen, daß die Lippen nur wie ein dunkler Strich wirkten. Wenn Babendererde noch eine leise Hoffnung gehabt hatte, es könnte hier ein anderes Mädchen liegen – wie viele Mädchen liefen vielleicht mit seiner Adresse im Täschchen herum! –, es möchte nicht die so hart behandelte Sängerin aus dem Treppenhaus sein, so war es mit dieser Hoffnung jetzt vorbei. Sie war es – und sie sah mehr denn je wie die Ilsebill aus, nach deren Kopf die Welt zu gehen hat.
»Nun, Schwester, etwas Neues, eine Änderung?« fragte der Arzt.
· · ·
Während die beiden miteinander flüsterten, war Babendererde an das Bett getreten. Er legte seine Hand leise über die der Kranken und sagte halblaut: »Ja, Fräulein Ilse, da bin ich! Als Kinder hatten wir einen Reim: ›Die Ilse, die Ilse, keiner will se! Da kam der Koch und nahm sie doch!‹ Also bin ich gekommen, ich schlechter Koch, der die Suppe versalzen hat.« Ganz überraschend zauberte er aus der weiten Tasche seines Automantels ein Sträußlein Maiglöckchen: »Es ist Frühling draußen, Fräulein Ilsebill, da werden Sie doch nicht im Bett liegen wollen?!«
Doktor Altpeter, im Hintergrund, blickte seufzend seinen Kollegen an. »Haben Sie das gesehen?« fragte er, »Babendererde bringt Blumen, und zwar heimlich besorgte! Nun haben wir zwei Kranke!«
»Meinen Sie wirklich?«
»Natürlich meine ich das! Er bildet sich ein, er hat Gewissensbisse – aber er ist einfach verliebt! Und er merkt es nicht einmal!«
»Nun«, sagte der junge Arzt und lachte, »vielleicht wird sie es ihm sagen. Das wäre ein ganz lohnender Anfang mit dem Wieder-Sprechen-Können! Kommen Sie, Herr Kollege, kommen Sie, Schwester, wir wollen die beiden für fünf Minuten einander überlassen!«
Die Hand hatte kühl und unbewegt unter der seinen gelegen, das Auge hatte unverändert in den Zimmerwinkel gesehen und nicht auf das Sträußchen. Babendererde zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett.
»Mein Kind«, sagte er, und ganz unbewußt legte er all seine Kunst in diese Worte, jene Kunst, die ihm die Zuneigung so vieler verschafft hatte. »Mein liebes Kind«, sagte er noch einmal, und seine Stimme ließ dabei dunkel ein tieferes Gefühl mitschwingen. »Ich bin heute recht häßlich zu Ihnen gewesen. Ich habe es gleich bereut. Ich sah Ihnen vom Balkon nach, und schon da wollte ich Ihnen folgen und sagen, daß Sie schön gesungen haben, sehr schön. Eines Tages werden Sie eine große Sängerin sein!«
Er schwieg einen Augenblick, sah sie an, die unverändert in ihren Kissen lag. Dann begann er von neuem: »Ich bin Ihnen nicht nachgegangen, leider nicht. Da ist immer so vieles, das einen ablenkt, das von dem Eigentlichen, dem allein Wichtigen fortzieht. Sie, die sich schon mit der Kunst beschäftigt haben, die schon ein Stück Künstlerin sind, werden es bereits wissen, daß unsere Kunst den ganzen Menschen braucht, unzersplittert. Sie ist eine sehr eifersüchtige Geliebte, diese Kunst, sie gibt sich nur dem, der ihr ganz gehören will. So verstehen Sie, daß ich bei Ihrem Kommen, Ihrem Gesang, bei Ihrem Fortgehen nur dachte: Laß dich in nichts ein! Du kannst ihr kaum helfen, und dir selbst schadest du so sehr!«
Wieder machte er eine Pause. Wie immer, wenn er von sich und seinem