Alle meine Packer. Martin Renold
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Und wieder leicht und beschwingt, in ausgetretenen Schuhen lang ausziehend, schritt Binggeli zum Verlag zurück. Man sah förmlich die Luft vor ihm zurückweichen. Es war, als ob sie sich vor ihm verneigte und mit leichter Hand die Schöße seines Mantels streifte, sie aufhob und wieder fallen ließ.
August Binggeli war ein praktisch veranlagter Mensch. Der Unterstand für den Handwagen war mit einem Dach aus Kistendeckeln und Dachpappe gedeckt. Die Dachpappe hatte unter der Witterung schon ziemlich gelitten und war an den Rändern zerrissen. Binggelis geübtes Auge sah dies schon in den ersten Tagen. Da musste Abhilfe geschaffen werden. Die Dachpappe wurde weggerissen. August Binggeli ließ sich aus der Kasse zwanzig Franken auszahlen und versprach, anderntags zwei Quadratmeter neue Dachpappe zu liefern. Unterdessen gingen die letzten Spätsommergewitter über das Land, und langsam begannen die Metallteile des Leiterwagens eine rötliche Farbe anzunehmen. Der Baumeister, angeblich ein Bekannter Binggelis, der Dachpappe zu Freundschaftspreisen lieferte, war offenbar nie anzutreffen. Zuerst war er noch in den Ferien, dann gerade auf dem Bau, dann weiß ich wo! Nur Binggeli wusste es nicht.
„Ja, entweder, Herr Renold“ belehrte mich Binggeli, als ich zum fünfundzwanzigsten Mal fragte, „entweder warten Sie, bis sich dieser verflixte Baumeister auftreiben lässt, unterdessen verrostet der Leiterwagen aber noch vollends, oder Sie geben mir noch einmal zwanzig Franken aus der Kasse, damit ich an einem anderen Ort Dachpappe zum Normalpreis beschaffen kann.
Da die Achsen, Naben und Reifen des Leiterwagens bereits wie Feuer glühten, gab ich Binggeli nochmals zwanzig Franken. Überraschenderweise war an diesem Abend der befreundete Baumeister doch noch anzutreffen gewesen. Der Preis der Dachpappe aber war inzwischen so hoch angestiegen – und Quittungen waren unter Freunden selbstverständlich nicht üblich –, dass ich das bisschen Herausgeld mit gutem Gewissen großzügig dem eifrigen Förderer zweckdienlicher Baukunst als Trinkgeld überlassen konnte.
Wie heißt es schon bei Schiller? „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.“
August Binggeli war der schlagende Beweis für dieses Dichterwort.
Nach den ausgezeichneten Erfahrungen mit dem neuen, regensicheren Dach ließ ich Binggeli auch an zwei Türschlösser heran, von denen er feststellte, dass sie nicht mehr richtig zuschnappten.
Geradezu mit blindem Eifer montierte der versierte Amateurschlosser die beiden Schlösser ab. Schon nach wenigen Minuten lagen sie im Packraum auf einer ausgebreiteten Zeitung. Stolz präsentierte Binggeli sein Werk uns ließ uns einen Einblick in das Innere dieses sinnreichen Mechanismus tun. Oft sind es ja gerade die alltäglichsten und doch so außerordentlich nützlichen Dinge, deren ausgeklügelte Funktion uns Laien ein Leben lang verborgen bleit. Binggeli aber hatte die unschätzbare Gabe, uns das komplizierte Schloss auf die einfachste Weise zu erklären.
Schon wenig später waren beide Schlösser in ihre Einzelteile zerlegt, abgeschmirgelt und in eine entrostende Flüssigkeit eingetaucht.
Leider stellte sich heraus, dass beide Schlösser nicht mehr zu gebrauchen waren. Aber Binggeli war nicht verlegen. Einer seiner Freunde handelte mit Schlössern, zu Freundschaftspreisen versteht sich. Da aber auch dieser Freund entweder in den Ferien oder weiß der Himmel – nur Binggeli wusste es wieder nicht – wo anzutreffen war, fand Binggeli bald eine Notlösung. Durch die Löcher in der Tür zog er Schnüre und verschlaufte deren Enden. In die Türrahmen schlug er Nägel ein und befestigte daran die Schlaufen. Da der Sommer noch nicht ganz zu Ende war, waren wir für den Durchzug dankbar. Dass es verschiedene Schlösser gibt, je nachdem eine Tür nach links oder nach rechts aufgeht, wurde mir erst bewusst, als August Binggeli bei einbrechendem Winter die beiden neuen Schlösser fachmännisch montiert hatte. Unsere Türen hatten von da an vortreffliche Eigenschaften. Man konnte sie nicht mehr zuschlagen. Das Schloss schnappte nur ein, wenn man zuvor die Türklinke hinunterdrückte. Dafür konnte man von der andren Seite, wenn man beide Hände mit Büchern beladen hatte, die Tür mit dem Fuß aufstoßen, ohne die Klinke drücken zu müssen.
Es gibt aber auch kleine und große Schlösser. Die neuen waren größer als die alten. Dass es Binggeli gelang, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Werkzeug die Löcher in der Tür so zu vergrößern, dass schließlich trotz der überdimensionierten Auskerbungen die Schlösser unverrückbar festhielten, zeugt von der praktischen Veranlagung dieses auf seine Weise genialen Menschen. Und als der Frühling kam, waren sogar die ausgesägten Kerben an Türen und Türrahmen mit einem neuen Farbanstrich versehen, der im Farbton nicht stärker vom ursprünglichen Anstrich abwich als vorher das rohe Holz.
Obwohl ich für die beiden Schlösser einen kleinen Freundschaftspreis bezahlt hatte, vermutete ich – allerdings erst später –, dass in der Mietwohnung Binggelis zwei Türen von da an nur noch nach der bei uns entwickelten und erprobten Methode mit Nägeln und Schnüren zugehalten wurden.
Der Oktober jenes Jahres, es war 1956, war ein denkwürdiger Monat. In Budapest brach der Aufstand los. Auch bei uns im Verlag war die ungarische Revolution das Tagesgespräch. Die Straße zwischen Budapest und Wien war überflutet von Flüchtlingen. Wir bewunderten die Menschen, die auf der Flucht solche Strecken zurücklegten. Nur unser Napoleon schien nicht beeindruckt zu sein.
„Die Straße kenne ich gut. Ich war vierundzwanzig Jahre als, als ich mit zwei Kollegen in Budapest war. Eine herrliche Stadt. Wir waren auf Wanderschaft. Alle drei junge Kerle, tatendurstig. Ha, wie sind wir marschiert! Von Budapest nach Wien, dann über den Brenner nach Mailand und über die Apenninen an die Riviera und hinunter bis nach Marseille. Die beiden anderen haben in Mailand aufgegeben. Aber August Binggeli gibt nie auf. Allein marschierte ich nach Marseille, Budapest-Marseille, alles zu Fuß. Ja, damals. Waren das noch Zeiten. Potzsternenhagelnocheinmal. Ha, und die Frauen!“ Er schaute Frau Knopf herausfordernd an. „Ja, die Frauen. Dem August Binggeli hat keine widerstanden, weder in Ungarn noch in Wien. Ach, und in Italien erst und in Marseille!“
Wir sperrten Mund und Augen auf.
Einmal war von Paris die Rede.
„Ja, ja, 1927, da war ich auch in Paris. Ich kam gerade dazu, als Lindbergh von seinem Atlantikflug in Paris landete. Und die Frauen in Paris, potzsternenhagelnocheinmal. Wenn Sie einmal nach Paris kommen, Herr Renold…“
Im Spanischen Bürgerkrieg war Binggeli in Kastilien, als Hitler an die Macht kam in München, bei Einmarsch der Deutschen ins Sudetenland hatte er gerade geschäftlich in Eger zu tun gehabt. Beim Ausbruch des Krieges befand er sich auf einem Transport nach Lemberg in Polen
„Jeden Tag fuhr ich der Lastwagenkolonne voraus und besorgte das Quartier für die Nacht. Wir transportierten eine ganze Fabrik vom Elsass nach dem Osten. Aber dann kamen die Russen.“
Ja, der August Binggeli war überall dabei, wo es etwas Abenteuerliches gab. Wir begannen unsere eigenen Erinnerungen anzustrengen, im Lexikon nachzuschlagen, um nach Ereignissen zu suchen, die wir beiläufig ins Gespräch einfließen lassen konnten. Es gab nichts, das Binggeli nicht auch erlebt hatte. Während des Krieges hatte er ein Transportgeschäft im Elsass betrieben. Die heikelsten Aufträge waren ihm übergeben worden, wie der schon erwähnte Transport nach Polen.
Als der Krieg sich dem Ende genähert hatte, war August Binggeli mit den Deutschen aus dem Elsass zurückgekehrt.
Als Schweizer Bürger hatte er natürlich keine Schwierigkeit gehabt, sich nach Konstanz durchzuschlagen, wo er sich über die Grenze in Sicherheit bringen wollte. In dieser Grenzstadt wimmelte es von Menschen, die sich alle in die Schweiz hinüberretten wollten.
Binggeli