Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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in demokratischen Rechtstaaten täuschen Politiker die Bürger. Das ist in dem „Pinocchio-Test“, dem schon 2008 erschienen, inhaltlich kaum veränderten Hauptteil dieses Lügenbuches nachzulesen. Dabei sollten doch Charakterstärke, sachliche Leidenschaft und distanziertes Augenmaß den Politiker auszeichnen, der Politik als Beruf und Berufung versteht. So hat es Max Weber gefordert. Es sollten nicht die Politiker das Politikerbild prägen, die nur nach ihrer Wiederwahl schielen, die das Blaue vom Himmel versprechen, unbequeme Wahrheiten verschweigen und auf das Kurzzeitgedächtnis der Wähler vertrauen. So schnell vergessen Wähler Wortbrüche auch nicht.

      Mit der Wählertäuschung in der Politik wollte Angela Merkel im Frühjahr 2005, damals als CDU-Vorsitzende noch in der Opposition, ein für alle Mal Schluss machen. Sie warb monatelang auf ihrer Homepage „www.angela-merkel.de“ für eine „Politik ohne Lüge“. Ihre Botschaft: Nur eine glaubwürdige Politik ohne Lüge hat Zukunft. In der Union setzte sie die Wahlkampfmaxime durch: „Sagen, was man tun will, und tun, was man sagt“.

      Der „Wahlkampf der neuen Ehrlichkeit“ zahlte sich aber, gemessen am Wahlergebnis, nicht aus. Der Grund: die Union hatte gegen das Gebot der Einfachheit der Kommunikation verstoßen und zugelassen, dass der politische Gegner Angst schüren konnte.

      Diese Erfahrung hat den Wahrheitsimpetus der Angela Merkel geschwächt und sie vorsichtig gemacht. Die Vorsicht vor unhaltbaren Versprechungen, frühen Festlegungen und klarer politischer Kante schützte sie nicht davor, dass die SPD sie, besonders wenn die Partei in der Opposition oder im Wahlkampfmodus war, mit Lügenvorwürfen attackierte. Anlass dazu gab ihr Taktieren in der Euro-Staatsschulden-Krise, insbesondere in der Griechenlandkrise.

      Die Planungsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion zeichnete Merkels Euro-Pirouetten genüsslich auf: „Das immer wiederkehrende Muster der Kanzlerin und ihrer Regierung in der Krise: Probleme leugnen -Gegenmaßnahmen verweigern- unter dem Eindruck weiterer Krisenverschärfung die gerade noch geforderte Position räumen- weitere Probleme leugnen…“Merkel kläre nicht auf. „Ihr Reden ist Täuschung“, hieß es in dem Papier der SPD-Planungsgruppe.

      Am 28. Februar 2010 sagte die Kanzlerin auf eine Frage im ARD-Bericht aus Berlin: Wird es deutsche Milliardenhilfen geben? Die Antwort der

      Kanzlerin:„ Das ist ausdrücklich nicht der Fall“. Kurz vor dem EU-Gipfel erklärte Merkel im März 2010 gegenüber dem Deutschlandfunk, sie sehe im Augenblick nicht, dass Griechenland Geld brauche. Es drohe keine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Auch Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker gab sich im März 2010 fest davon überzeugt, „dass Griechenland diese Hilfe nie wird in Anspruch nehmen müssen, weil das griechische Konsolidierungsprogramm in höchsten Maße glaubwürdig ist“.

      Am 7. Mai 2010 beschloss der Deutsche Bundestag auf Antrag der Regierung, dass sich Deutschland mit 22,4 Mrd. Euro Krediten der Bundesanstalt für Wiederaufbau am ersten Rettungspaket beteiligt. Merkel rechtfertigte dies mit der Notsituation und der deutschen Verantwortung für die Sicherung der Zukunft Europas. Sie verkniff sich nicht den Hinweis, dass es die rot-grüne Bundesregierung gewesen sei, die trotz aller Warnungen, Skepsis und Zweifel im Jahre 2000 bereits frühzeitig eine politische Vorentscheidung zugunsten des Beitritts Griechenlands zu Eurozone getroffen habe.

      Die griechische Euromitgliedschaft fing mit einer Lüge an. Ohne die griechische Statistik-Lüge, die Verschleierung einer deutlich höheren Verschuldung und Daten-Fälschung hätte Griechenland nicht den Euro bekommen. Seitdem zog in der griechischen Staatsschuldenkrise eine Lüge die andere nach sich.

      Am 28. September 2010 sagte Merkel gegenüber Spiegel-online, eine Verlängerung der jetzigen Rettungsschirme werde es mit Deutschland nicht geben. Der Name der Rettungsschirme wechselte. Das zweite Rettungspaket für Griechenland mit neuen Kredithilfen wurde im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im Jahre 2012 geschnürt. Der ESM war auf Dauer angelegt und wurde durch einen neuen Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union rechtlich abgesichert. Deutschland bürgte für 38 Mrd. Euro der zugesagten 163 Mrd. Euro.

      An dem Zustandekommen der Rettungspakete hatte Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker, der spätere Kommissionspräsident, mitgewirkt. Hans-Olaf Henkel warf ihm in seinem Buch „Die Euro-Lügner“ vor, die Lüge salonfähig gemacht zu haben. Einen Blick in seine Trickkiste habe er schon 1999 gegeben. „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“, hatte er dem Spiegel gesagt.

      Einen Satz bereut Juncker bis heute zutiefst: „Wenn es ernst wird, muss man Lügen“. Dieser Satz hänge ihm in den Kleidern. Gesprochen hatte er ihn gegenüber Spiegel-online. Er hätte zehn Sekunden Zeit gehabt, auf eine Meldung von Spiegel-online über ein Geheimtreffen der Euro-Gruppe zu reagieren, erläuterte Juncker. Hätte er das Treffen zugegeben, hätte dies an den Finanzmärkten einen Tsunami ausgelöst. Deshalb habe er zu einer Notlüge gegriffen.

      Lügen solle man nicht, aber alles sagen müsse und dürfe man auch nicht. Wenn eine Information vorzeitig bekannt werde, obwohl eine Entscheidung noch nicht getroffen sei, profitierten von diesem Wissen die Multimilliardäre und nicht kleinen Sparer.

      Später habe er sich Interviews gegen den Eindruck wehren müssen, als ob er nichts anderes im Sinn gehabt hätte, als die Europäer systematisch zu belügen. Er habe nicht immer die volle Wahrheit gesagt, wenn er gewusst habe, dass die Mitteilung in dem Moment der vollen Wahrheit Schaden mit sich bringen würde.

      Notlügen sind sicherlich anders zu beurteilen als vorsätzlich irreführende und täuschende Lügen. Die Grenzen zwischen beiden Lügenarten sind aber schwer zu bestimmen und fließend. Notlügen werden zudem leicht durchschaut. Den Finanzmärkten genügt schon ein Gerücht. Ein „No-Comment-Statement“ erstickt zwar kein Gerücht, aber die Empörung über eine offensichtliche Lüge.

      Regierungspolitiker hatten besonders vor Wahlen und wegen des wachsenden Widerstands in der Unionsbundestagsfraktion gegen immer neue Rettungspakte für Griechenland den Eindruck erweckt, es werde kein drittes Rettungspaket für Griechenland geben. Aber als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Bundestagwahlkampf durchblicken ließ, Griechenland benötige ein drittes Hilfsprogramm, nutzte dies Altkanzler Gerhard Schröder, um seiner Nachfolgerin vorzuwerfen, den Bürgern die Unwahrheit über die Kosten der europäischen Schuldenkrise zu sagen. „ Mit Vertuschen und Verschleiern gewinnt man kein Vertrauen des Volkes, sondern nur mit Klartext“, sagte Schröder laut Spiegel-Online. Er behauptete, es werde eine ganz große Lüge über die Kosten der Euro-Krise vorbereitet. Deutschland werde dafür zahlen müssen.

      Als es dann nach einem abenteuerlichen Zickzackkurs voller Wortbrüche der griechischen Linksregierung und wochenlangen Verhandlungen in der zweiten August-Hälfte 2015 zu einem dritten Hilfspaket für Griechenland kam, stimmen in der Unionsfraktion 63 Abgeordnete dagegen, 3 enthielten sich und 17 nahmen an der Abstimmung gar nicht erst teil. Das dritte Rettungspaket umfasste Kredithilfen in Höhe von insgesamt 86 Milliarden Euro. Die Höhe des deutschen Haftungs-Risiko hing davon ab, ob sich der Internationale Währungsfondsbestimmen an dem dritten Hilfspaket beteiligen würde.

      Alle Hilfspakete und Kredittranchen waren unter der Bedingung gegeben worden, dass die Regierungen des überschuldeten griechischen Staates ihre Reform- und Sparzusagen auch in die Tat umsetzen würden. Ein Sparpaket folgte dem anderen. Die Umsetzung geschah aber nur mit erheblicher Verzögerung, systematischer Verschleppung oder gar nicht - trotz der Überwachung durch die Gläubiger. Die Regierungen und Parlamente standen unter dem Druck permanenter Streiks und Demonstrationen einer reform- und sparunwilligen Bevölkerung. Die Spar- und Reformauflagen verlangten gerade den ärmeren Griechen existenzgefährdende Opfer ab, die viele verzweifeln

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