Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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Klima. Ein Teil der Medien fachte die explosive Stimmung immer wieder an.

      Griechenland hatte sich nicht nur immer höher verschuldet, seit seine Zinsen mit dem Eurobeitritt gesunken waren. Staat und Bevölkerung hatten über ihre Verhältnisse gelebt- auf einem Wohlstandsniveau, das weit über die Wettbewerbsfähigkeit, die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und die Produktivität der Arbeitnehmer hinausging. Hinzu kamen eklatante Mängel beim Vollzug staatlicher Aufgaben, bei der Bekämpfung der verbreiten Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft und Korruption. Aber wer wollte die unbequemen Wahrheiten hören, zumal die Konsequenzen so bitter waren? Und welche Politiker, die gewählt werden wollten, trauten sich, sie den Wählern zuzumuten? Wer die Frage „Wie viel Lüge verträgt die Politik?“ stellt, muss zugleich die Frage stellen „Wie viel Wahrheit verträgt der Wähler?“ Ein ganzes Volk hätte sich ändern müssen. Es hätte ein neues Staatsverständnis gewinnen müssen, von den Staatsaufgaben und den Bürgerpflichten. Dazu waren nur wenige Bürger bereit.

      Die Wut über die als Diktate empfunden Spar- und Reformauflagen wusste Alexis Tsipras, der Vorsitzende der linkspopulistischen Syriza-Partei zu nutzen. Die Versprechungen, den Sparkurs zu beenden, den Mindestlohn wieder zu erhöhen, Renten- und Pensionskürzungen rückgängig zu machen, einen teilweisen Schuldenerlass durchzusetzen und ein von der EU zu finanzierendes Milliarden-Ausgabenprogramm zur Stimulierung der griechischen Wirtschaft zu erreichen, waren eigentlich unhaltbar. Sie machten ihn jedoch bei der Wahl im Januar 2015 zum neuen griechischen Regierungschef.

      Einige Monate später, nach zermürbenden und die Gläubiger verärgernden Verhandlungen über die Freigabe der letzten Tranche des zweiten Rettungspaketes, die die Gläubiger an Reformauflagen gekoppelt hatten, kündigte er als vermeintlichen Joker in den überaus zähen Verhandlungen ein Referendum für den 5. Juli 2015 an.

      In dem Referendum sollte über die von den Kreditgebern in ihrem Textentwurf gestellten Bedingungen für weitere Auszahlungen aus dem zweiten Hilfspaket abgestimmt werden. Er rief dazu auf, in dem Referendum die Reformvorschläge abzulehnen. Sie verletzten nach seiner Ansicht eindeutig europäische Regeln und ebenso das Recht auf Arbeit, Gleichheit und Würde. Er behauptete, dass das Ziel einiger Partner und Institutionen sei möglicherweise die Erniedrigung eines ganzen Volkes. Für den Pleitestaat Griechenland stand viel auf dem Spiel. Ein Ausscheiden des Landes, der „Grexit“ rückte näher. In dem Referendum lehnten die Wähler mit einer Mehrheit von 61,3 Prozent die Bedingungen der Gläubiger ab. Tausende Griechen bejubelten und feierten den vermeintlichen Sieg auf dem Athener Hauptplatz.

      Tsipras erklärte in einer Fernsehansprache, Griechenland feiere einen Sieg der Demokratie. Das Nein werde die Verhandlungsposition der Griechen stärken und die Unterdrückung des griechischen Volkes beenden. Das war mehr als eine zweckoptimistische Fehleinschätzung, sondern eine bewusste Täuschung und eine Selbsttäuschung.

      Weil immer mehr Kapital aus dem Land floh, wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Banken und Börsen wurden eine Woche geschlossen. An den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Abhebungen wurden begrenzt. Die Zahlungsfähigkeit der Banken wurde nur durch Notfallkredite der EZB gesichert.

      Um trotz der Ablehnung neuer Reform- und Sparvorschläge durch das Referendum ein neues Hilfspaket zu erhalten, einigte sich Tsipras am 12. Juli 2015 nach einer 17-stündigen Marathon-Sitzung mit der gesamten Eurogruppe in Brüssel wenig später auf Sparmaßnahmen. Diese kamen denen, die Tsipras und das griechische Volk zuvor abgelehnt hatten, sehr nahe. Am 15. Juli 2015 stimmte das griechische Parlament unter Zuhilfenahme der Opposition den Maßnahmen mehrheitlich zu. Der extrem linke Flügel spaltete sich von Syriza ab, bildete eine neue Partei, machte weiter Front gegen die Sparpolitik, warb für einen Austritt aus der Eurozone und die Rückkehr zur Drachme. Der Tsipras-Koalitionsregierung mit den Rechtspopulisten fehlte nach der Abspaltung eine eigene Mehrheit im Parlament.

      Um wieder eine eigene Mehrheit und damit ein Mandat für den Sparkurs zu erhalten, der ihm nach seiner Darstellung von den Kreditgebern aufgezwungenen worden war, trat er zurück und führte vorgezogene Neuwahlen am 20. September 2015 herbei. Die Flucht nach vorn zahlte sich aus. Syriza wurde wieder stärkste politische Kraft und konnte die Koalition mit den Rechtspopulisten fortsetzen.

      „Welt. de“ kommentierte: Das griechische Volk wolle einen Blender, es wolle getäuscht werden. Der Mannheimer Morgen meinte: Aus Alexis Tsipras, dem Kämpfer für ein stolzes, selbständiges Griechenland sei ein wortbrüchiger Politiker wie viele vor ihm geworden. Nun müsse er sich als Reformer bewähren und das tun, für das nie gewählt werden wollte: das Land umbauen, die Verwaltung reformieren, die Privatisierung anschieben.

      Die Wähler hätten sich daran gewöhnt, dass Wortbrüche anscheinend zur Politik gehören. Tsipras sei nur der letzte in der Reihe der Enttäuscher, kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Die große Mehrheit hatte aber immerhin akzeptiert, dass Griechenland nur innerhalb der Eurozone zu sanieren war, ohne der konservativen Nea Dimikratia eine neue Chance zu geben. Obwohl Griechenland unter dem konservativen Regierungschef Antonis Samaras auf Erholungskurs gewesen war, verzieh ihm die Mehrheit der Wähler nicht die auch von ihm selbst begangenen Wortbrüche und widerstrebend eingeleiteten Sparmaßnahmen.

      Samaras Nachfolger an der Spitze der konservativen Partei, Meimarakis hatte es nicht geholfen, dass er Tsipras vorwarf, wiederholt das griechische Volk belogen zu haben. Die Enttäuschung vieler Wähler suchte sich ein anderes Ventil: die Wahlbeteiligung sank von 63,6 bei der Januar-Wahl 2015 auf 56,6 Prozent bei der September-Wahl. Die politische Kultur verfalle, das Interesse an der Politik und der Glaube an die Wirkung der eigenen Stimme sei niemals geringer gewesen, eine traurige und Besorgnis erregende Entwicklung, meinte Zeit-online.

      Je stärker die Wahlbeteilung sinkt, desto schwächer wird in der Demokratie die Legitimität der Herrschaft, desto mehr bekommen radikale Parteien ein Gewicht, das sie bei hoher Wahlbeteiligung nie hätten. Wenn sich weit über 40 Prozent der Wähler dafür entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen, ist das ein Misstrauensvotum, eine Mahnung an die Politiker, die Wähler nicht durch unhaltbare Versprechungen zu täuschen und Wort zu halten.

      Machiavellisten, die täuschen, um Macht zu gewinnen oder zu erhalten, sollten in der parlamentarischen Demokratie keine Chance haben. Dafür zu sorgen, liegt in der Verantwortung der Parteien, der anderen gesellschaftlichen Akteure wie der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, der Wissenschaftler, vor allem aber der Medien. Sie sollten ihre Unabhängigkeit bewahren, sich der Wahrheit verpflichtet fühlen und denjenigen Politikern eine Chance geben, die es mit der Wahrheit versuchen. Medien, die Emotionen schüren, um Auflagen oder Einschaltquoten zu erhöhen, statt aufzuklären und einen Faktencheck zu machen, verspielen ihr Wächteramt. Sie fördern die Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen statt sie zu entlarven.

      Dieses E-Book umfasst außer einer aktuellen Einführung den etwas gekürzten, aber kaum veränderten Text meines bereits 2008 erschienen Buches „ Der Pinocchio-Test“. Kaum verändert, weil er noch nicht als E-Book erschienen ist und ich mein Schluss-Plädoyer für eine „Kultur der Redlichkeit“ wieder so halten würde. Das Gespräch, das ich mit Professor Kurt Biedenkopf geführt habe, rät zur Tugend der politischen Klugheit und warnt Politiker davor, den gesunden Menschenverstand der Wähler zu unterschätzen. Manches hat sich im Lauf der Jahre durch die Blogs und sozialen Netzwerke mit ihren Shitstürmen geändert. Erfreulich ist sicher, dass der Faktencheck in den Medien heute weit verbreitet ist und auf den Portalen Hintergrundinformationen geboten werden. Das fördert die Sachlichkeit und Redlichkeit in der politischen Kommunikation.

      Der Leser dieser Einführung könnte den Eindruck gewinnen, die Wählertäuschung sei ein griechisches Phänomen. Die Sammlung der Lügengeschichten im „Pinocchio-Test“ wird ihn vom Gegenteil überzeugen. Olle Kamellen? Die Lügen-Geschichten gehören leider zur Zeitgeschichte. Damit sie nicht ganz so schnell in Vergessenheit geraten, habe ich sie festgehalten - zum Nachlesen und zur Erinnerung der Wähler, was aus manchem vollmundigen Wahlversprechen geworden ist. Ich

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