Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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des Spiegel hat schon manche falsche Behauptung eines Politikers offen gelegt. Frank Plasberg lässt nach einer Hart, aber fair-Sendung Kernaussagen der Gesprächpartner durch Experten überprüfen und veröffentlicht die Ergebnisse auf der Homepage seiner Sendung.

      Doch so mancher kritische Bürger sieht Politiker und Journalisten beim Lügen in einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Die durch Politikinszenierungen geprägte „Mediendemokratie“ ist zwar eine Karikatur, denn die Medien herrschen nicht, aber wie jede Karikatur enthält auch diese einen Funken Wahrheit. Die Medien haben Macht. Deshalb müssen sie sich auch fragen lassen, wie verantwortlich sie mit dieser Macht umgehen und wie glaubhaft, wie wahrhaftig sie als mediale Wächter der Wahrheit selbst sind.

      Der italienische Schriftsteller Carlo Collodi hat vor mehr als 130 Jahren die märchenhaft-phantastische Erzählung „Die Abenteuer des Pinocchio“ verfasst. Es ist die Geschichte einer Holzpuppe und ihres schwierigen Wegs der Menschwerdung. In pädagogischer Absicht gab Collodi der Puppe Pinocchio eine Nase, die lang und länger wird, wenn er lügt, um Kindern damit ein abschreckendes Beispiel zu geben. Doch wie schon Maria Bettentini in ihrer kleinen Geschichte der Lüge kritisch anmerkt, wird den Kindern das Lügen durch eine Drohung verboten, die selbst eine Lüge ist. „Oder hat schon jemals einer eine Nase wachsen sehen aus einem anderen Grund als wegen eines Schnupfens?“

      Auch Politikern kann man es nicht an der Nase ansehen, ob sie die Wahrheit sagen. Den „Pinocchio-Test“ muss man also auf andere Weise machen.

Ist der Ruf erst ruiniert …

      Pinocchios in aller Welt

       „Es wird niemals soviel gelogen wie vor der Wahl,

       während des Krieges und nach der Jagd“

       Otto von Bismarck

      Als die amerikanische Senatorin und US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton im Vorwahlkampf der Demokraten im Frühjahr 2008 über ihren Besuch in Bosnien im Jahre 1996 berichtete, tischte sie mächtig auf. Sie erzählte, sie sei bei der Ankunft in Tuzla unter das Feuer von Heckenschützen geraten und mit gesenktem Kopf über das Rollfeld gerannt. US-Fernsehsender zeigten dagegen Bilder, auf denen Clinton und ihre Tochter Chelsea lächelnd und entspannt aus dem Flugzeug stiegen. Die Realität war undramatisch. Es gab sogar eine Begrüßungszeremonie.

      Die Washington Post verlieh Hillary Clinton für ihre Schilderung der Ereignisse, die damit ihre außenpolitische Erfahrung unterstreichen wollte, vier Pinocchios: für die Verdunkelung der Fakten, Weglassungen bzw. Übertreibungen, für Irrtümer und falsche Darstellung der Tatsachen und faustdicke Lügen. Hillary Clinton entschuldigte sich damit, dass sie sich versprochen, sie sich schlicht geirrt habe.

      Die Anekdote ist im Vergleich zu den Täuschungen, Trugbildern und Vertuschungen amerikanischer Präsidenten und ihrer Regierungsangehörigen eine Bagatelle. Wie Eric Alterman in seinem Buch „When Presidents lie“ eindrucksvoll beschrieb, haben amerikanische Präsidenten nicht nur zu Notlügen, Lügen aus „Staatsräson“ gegriffen, sondern auch zu Lügen, um einen Nimbus zu schaffen und zu erhalten, der ihre Wiederwahlaussichten verbessern sollte. Ein Beispiel: John F. Kennedy und sein Bruder, der damalige US-Justizminister Robert Kennedy, haben den Abzug sowjetischer Raketen von Kuba nur im Tausch gegen den späteren Abzug von US-Jupiter-Raketen aus der Türkei erreicht , auch wenn diese militärisch fast wertlos gewesen sein sollen. Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser geheimen Abrede zwischen Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in den USA Anatoli Dobrynin nichts. Nicht nur aus Rücksicht auf die Türkei. Der Mythos des mutigen, harten Präsidenten John. F. Kennedy sollte nicht zerstört werden. Schon zu Beginn der „Kuba-Krise“ hatte ein hochrangiger Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministerium, Arthur Sylvester, auf einer Pressekonferenz im Oktober 1962 wider besseres Wissen abgestritten, dass das Pentagon die Stationierung sowjetischer Offensivwaffen auf Kuba entdeckt hatte. Später begründete er seine Lüge mit dem Recht einer Regierung zu lügen, wenn sie sich damit rettet.

      Dabei ist Wahrheit in den USA ein hochmoralischer Begriff, dessen Missachtung zu einem Amtsenthebungsverfahren führen kann, was verschiedene Präsidenten jedoch keineswegs davon abgehalten hat, die Unwahrheit zu sagen. Richard Nixon, der seine eigene Verwicklung in den Watergate-Skandal zu vertuschen versuchte, kam der Amtsenthebung durch seinen Rücktritt bevor. Bill Clinton, der die amerikanische Nation unter Eid über seine Affäre mit Monica Lewinski belogen hatte, und der vor der Grand Jury zugeben musste, eine unangemessene Beziehung zu Lewinsky gehabt zu haben, wurde wegen Missachtung des Gerichts verurteilt, entging aber knapp der Amtsenthebung.

      In den Schatten gestellt wurde all dies von der Präsidentschaft George W. Bushs, wie Hans Leyendecker in seinem Buch „Die Lügen des Weißen Hauses“ urteilte. Noch nie habe eine amerikanische Regierung das eigene Volk und die Welt derart manipuliert und belogen wie die Bush-Administration, weil sie den Irak-Krieg führen wollte. Dies sei vorsätzlich geschehen. Dabei seien doch Wahrheit und Glaubwürdigkeit in einem Land, dessen erster Präsident George Washington mit dem Satz „I never told a lie“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, wichtige Begriffe.

      Die Bush-Regierung soll nach einer Studie von Wissenschaftlern um den Gründer des Center for Public Integrity, Charles Lewis, innerhalb von zwei Jahren nach dem 11. September 2001 mindestens 935 Lügen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit durch den Irak verbreitet haben. Die meisten Lügen bezogen sich auf die Behauptung, dass der Irak Massenvernichtungswaffen habe und mit AL-Qaida kooperiere. Der Besitz von Massenvernichtungswaffen war der offizielle Hauptgrund der amerikanischen und britischen Regierung für den Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein.

      Es ist aber mittlerweile unumstritten, dass der Irak damals weder Massenvernichtungswaffen hatte noch über bedeutsame Verbindungen zu Al Qaida verfügte. Eine Untersuchung des Geheimdienstausschusses ergab, dass die Rechtfertigung für den Irakkrieg auf falschen und ungedeckten Analysen der CIA und anderer Dienste beruhte. Für die Behauptung, Bagdad besitze chemische und biologische Waffen, habe es keine Grundlage gegeben. Die CIA soll nach einem Bericht der „New York Times“ schon vor dem Irak-Krieg gewusst haben, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungsmittel mehr herstellen ließ, diese Information jedoch nicht an US-Präsident George W. Bush weiter gegeben haben. Auch nach Kriegsende konnten keine Beweise für die Existenz von Massenvernichtungsmitteln gefunden werden.

      Für das damals von dem Kriegsgegner Gerhard Schröder geführte Deutschland höchst blamabel ist es, dass es die Lügengeschichten eines BND-Zeugen waren, die den USA angebliche Beweise für mobile Biowaffenlabors Saddam Husseins lieferten. Der BND hätte diese Erkenntnisse, die durch keine zweite Quelle bestätigt und von ihm selbst anzweifelt worden waren, nicht weitergeben dürfen. Die bei der Weitergabe geäußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Information ändern nichts daran, dass Deutschland sich eine Mitschuld vorwerfen lassen muss.

      Präsident Bush bezeichnete den Einmarsch dennoch als richtig. Dank des Einsatzes sei ein Feind unschädlich gemacht worden, der die Fähigkeit gehabt habe, Massenvernichtungsmittel herzustellen und sein Wissen an Terroristen weiter zu geben. Die Welt sei besser dran, ohne Saddam Hussein an der Macht. Jedoch räumte er „gewisse Mängel“ bei den Geheimdiensten ein.

      Damit war ein Sündenbock gefunden, wie Thymian Bussemer4 schrieb. Sowohl die britische als auch die US-Regierung hätten sich − nachdem überdeutlich geworden war, mit welch unwahren Behauptungen sie ihren Krieg gerechtfertigt hatten − darauf verlegt, ihre Geheimdienste verantwortlich zu machen, die nun für die falschen Aussagen gerade stehen müssten.

      Die auf falschen Analysen beruhende Rechtfertigung für den Irak-Krieg kostete weder George W. Bush noch den damaligen englischen Premier Tony Blair die Wiederwahl. Das könnte Politiker darin bestätigen, es mit der Wahrheit nicht

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