Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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durch Enquetekommissionen erhärtete Prognosen wie zum Beispiel über die Herausforderungen, die sich aus der Bevölkerungsentwicklung ergeben. Diese Herausforderungen sind nahezu allen Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bekannt und kaum umstritten.

      Andere erklären das Votum für eine Dosierung der Wahrheiten aus der großen Zahl politisch Desinteressierter und dem geringen politischen und wirtschaftlichen Grundwissen großer Teile der Bevölkerung.

      Überwältigend ist das politische Interesse der Deutschen in der Tat nicht. Nur jeder zweite interessiert sich für Politik, die andere Hälfte interessiert Politik nicht besonders oder gar nicht12. „Sonntag entscheidet das Bauchgefühl“ prophezeite Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter-Schöppner in einem Beitrag, der kurz vor der Bundestagswahl 2005 in mehreren Zeitungen erschien: Er verwies darauf, dass sich das politische Interesse halbiert habe. Gerade noch 25 Prozent der Befragten statt 50 Prozent wie noch 1990 hielten sich für politisch interessiert. Die Wähler durchschauten nicht mehr einfachste Aussagen und Zusammenhänge. Nicht mehr die zentralen Zukunftsthemen, vielmehr geschicktes Agenda-Setting, also der richtige Satz zur richtigen Zeit, dominiere die Wahlkampfstimmung. Die mangelnde politische Urteilsfähigkeit vieler Deutscher − die Zahl von 25 Prozent politisch Interessierter besage, dass 75 Prozent Uninteressierte die Wahl entscheiden − führe inzwischen zu völlig veränderten Mechanismen der Wahlentscheidung.

      Die Dosierung der Wahrheit führt jedoch in einen Teufelskreis. Am Ende erzeugt sie noch mehr politisches Desinteresse, weil die Politik die heißen Themen meidet und dem Bürger damit die Möglichkeit nimmt, über politische Gestaltungsalternativen zu urteilen, und weil diejenigen, die noch Interesse aufbringen, sich nicht für voll genommen fühlen.

      Doch offensichtlich scheuen viele Politiker das Risiko, den Wähler mit − bitter notwendigen − Veränderungen vertraut zu machen. Sie glauben, die „Nation der Besitzstandswahrer“ gut zu kennen, die jeden bestraft, der Umgestaltungen oder gar schmerzhafte Einschnitte vorschlägt. Die demoskopischen Befunde wecken in der Tat Zweifel am Verständnis vieler Bürger dafür, die eigenen Ansprüche zurückschrauben zu müssen. So sei es, im Rückblick auf die Bundestagswahl 1998, von Gerhard Schröder geschickt gewesen, einer Bevölkerung, die sich im Grunde gar nicht bewegen wolle, nichts Konkretes über anstehende Veränderungen zu sagen − außer der Tatsache, dass er die verschriensten Reformen der amtierenden Regierung auf jeden Fall zurücknehmen wolle, meinte Edgar Piel vom Institut für Demoskopie Allensbach. Die Daten mehrerer Umfrageinstitute hatten gezeigt, wie stark die von der Regierung Kohl vorgenommene Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bemäkelt wurde. Bei der im September 1996 durchgeführten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen e.V. hatten 64 Prozent der Befragten die Kürzung der gesetzlichen Lohnfortzahlung abgelehnt.

      Auch die Senkung des Rentenniveaus stieß auf negative Resonanz. Allensbach stellte fest, dass sich ab Anfang 1997 die Stärke der Regierungsparteien rapide verminderte. Es sei ein auf diesen Umstand gerichteter strategischer Zug der SPD gewesen, meinte das Institut, im Wahlkampf den Menschen zu versprechen, genau diese Reformen der Regierung Kohl − die Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Reduzierung des Rentenniveaus − zurückzunehmen, wenn sie die Wahlen gewinnen würde. Der Zwiespalt in der Bevölkerung wurde von Edgar Piel so gesehen: „Alle wissen, dass wir nur mit einschneidenden Reformen zukunftsfähig sein werden. Und die Reformen, die uns zukunftsfähig machen, werden wie Lokomotiven empfunden, die uns aus dem Paradies schleppen. Je langsamer sie vorankommen, desto länger, so scheint man zu hoffen, könne man Paradiesluft schnuppern."

      Schon im Juli des Jahres 1998 hatte Die Zeit auf der Grundlage einer aufwendigen Repräsentativ-Befragung festgestellt: Reform macht Angst. Aller Stillstand geht vom Volke aus. Die Deutschen fordern keinen Umbau des Sozialstaats, soweit das Fazit der Wochenzeitung.

      An der Akzeptanz von Sozialreformen mangelte es auch im Sommer 2005 noch. Auf die Frage „Wären Sie mit weiteren Kürzungen im Sozialsystem einverstanden?“ antworteten nur 26 Prozent der Befragten mit „ja“, 70 Prozent mit „nein“ 13. Und auf „Sind Sie damit einverstanden, dass man ab 2011 erst mit 67 Jahren in Rente gehen soll?“ antworteten nur 21 Prozent mit „ja“, aber 74 Prozent mit „nein“14.

      Für die Politik darf aber die mehrheitliche Ablehnung von schmerzlichen Reformen des deutschen Sozialstaats nicht die Kapitulation bedeuten. Sonst würde die „Besitzstandsrepublik" angesichts der großen Probleme einer alternden Gesellschaft und der Herausforderungen des globalen Wettbewerbs ihre Zukunft verspielen. Politiker müssen die Bürger mit notwendigen Veränderungen konfrontieren und um Zustimmung für ihre Reformpläne werben. Der Sachstreit über Alternativen sollte die Wahlkämpfe bestimmen, nicht die wechselseitige Herabsetzung. Wenn die Politik als das Eldorado der Lügner und Betrüger erscheint, dann vor allem, weil Politiker einander so nennen, hatte Erhard Eppler, die Galionsfigur der SPD-Linken, zu bedenken gegeben15.

      Die Selbstdemontage der Politiker

       „Politiker sagen das, was ankommt,

       und nicht das, worauf es ankommt.“

       Hans-Olaf Henkel

      Der Ruf der Politiker ist nicht der beste. Sie bringen sich selbst in Verruf. Keinen Vorwurf machen sie einander so häufig wie den der Lüge. Wer soll ihnen vertrauen, wenn sie sich gegenseitig diffamieren und als unglaubwürdig bezeichnen? Kaum steht das Resultat einer Wahl fest, bezweifeln die Unterlegenen die Legitimität des Ergebnisses. So zieh die Union 1976 den sozialdemokratischen Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt und Kanzler Helmut Schmidt der Rentenlüge. 1990 warf der unterlegene SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine dem Sieger Helmut Kohl vor, die erste gesamtdeutsche Bundestagwahl mit einer Steuerlüge gewonnen zu haben. Edmund Stoiber, von Gerhard Schröder 2002 knapp geschlagen, attackierte im Nachgang die Regierung Schröder mit der Behauptung, sie habe sich an die Macht geschwindelt und gelogen. Ein auf Drängen der Union eingesetzter Lügen-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sollte den Vorwurf erhärten − tat dies aber nur aus der Sicht der Opposition.

      Die Selbstdiskreditierung der Politiker kommt wie ein Bumerang auf sie zurück. Sie ruiniert jedoch nicht nur deren Ruf. Schlimmer ist, dass sich viele Bürger mit Grausen von dem „schmutzigen Geschäft“ abwenden.

      Im Juni 200516 nannten auf die Frage, welche Partei am ehesten glaubwürdig sei, nur 13 Prozent die SPD, 26 Prozent die Union, aber 40 Prozent der Befragten meinten „keine Partei“. Bis April 200817 hatten sich Skepsis und Distanz der Bürger zur politischen Führungselite nicht geändert. Nur 17 Prozent der Befragten bescheinigten Politikern Kompetenz und Fähigkeit, nur 28 Prozent Verantwortungsbewusstsein. Im gleichen Frühjahr sank das Ansehen der Politiker in der Allensbacher Berufs-Prestige-Skala auf den niedrigsten jemals gemessenen Stand. Nur noch sechs Prozent der Befragten schätzten den Beruf des Politikers.

      Zu diesem Ansehensverlust haben auch die wechselseitigen Lügnervorwürfe beigetragen. Aber diese Vorwürfe sind nach der Meinung vieler Bürger berechtigt. Politik und Wahrhaftigkeit wohnen selten unter einem Dach, heißt es in Stefan Zweigs „Marie Antoinette“. Das glaubt auch fast jeder zweite Deutsche. Der Aussage: „Politiker können versprechen, was sie wollen, ich glaube ihnen nicht mehr“, stimmten 45 Prozent der befragten Bürger zu. Und 57 Prozent warfen Ihnen vor, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen18. Viele Wähler fühlen sich von den Wahlkämpfern in die Irre geführt. Folgenlos bleibt dies nicht. Die Wahlbeteiligung sinkt, das Lager der Nichtwähler wächst.

      Populismusgefahr

       „Diejenigen, die zu klug sind, um sich in der Politik zu engagieren,

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