Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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      Rainer Nahrendorf

      im Januar 2016

      Pinocchio-Test

      Vorwort: Im Labyrinth der Lügen

       „Ein halb leeres Glas Wein ist zwar zugleich ein halb volles,

       aber eine halbe Lüge mitnichten eine halbe Wahrheit.“

       Jean Cocteau

      Noch ein Lügenbuch? Als ob die Bibliotheken nicht schon voller Lügenliteratur wären und nicht ohnehin jedermann davon ausginge, dass Politiker keine Vorbilder für Wahrhaftigkeit sind.

      Die Diskussion über die Lüge in der Politik ist älter als die Demokratie. Hannah Arendt schrieb in ihrem 1972 erschienen Essay über Lügen in der Politik: „Geheimhaltung und Täuschung − was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen −, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel der Politik.“

      Hoffähig gemacht hat den Wortbruch als erlaubtes Mittel der Politik Niccolo Machiavelli. 1513 verfasste der arbeitslose florentinische Sekretär seine als Bewerbung gedachte Schrift:„Il Principe“, eine auf Erfahrung und Anschauung gestützte Verhaltenslehre für absolutistische Herrscher.

      Machiavelli schätzte durchaus sittliches Handeln. Doch List und Tücke führten nach seinen Beobachtungen oft sicherer zum Ziel. Im 18. Kapitel des „Principe“ schrieb er: „Jeder sieht ein, wie lobenswert es für einen Herrscher ist, wenn er sein Wort hält und ehrlich, ohne Verschlagenheit seinen Weg geht. Trotzdem sagt uns die Erfahrung unserer Tage, dass gerade jene Herrscher Bedeutendes geleistet haben, die nur wenig von der Treue gehalten und es verstanden haben, mit Verschlagenheit die Köpfe der Menschen zu verdrehen; und schließlich haben sie über die die Oberhand gewonnen, die ihr Verhalten auf Ehrlichkeit gegründet haben.“

      Um seine Auffassung zu verdeutlichen griff der im Herzen republikanische Beamte zu Analogien aus der Tierwelt: „Wer am besten Fuchs zu sein verstanden hat, ist am besten gefahren. Doch muss man sich darauf verstehen, die Fuchsnatur gut zu verbergen und ein Meister in der Heuchelei und Verstellung sein. Die Menschen sind ja so einfältig und gehorchen so leicht den Bedürfnissen des Augenblicks, dass der, der betrügen will, immer einen findet, der sich betrügen lässt.“

      Als Apologet skrupellosen Machtstrebens erscheint Machiavelli, wenn er weiter ausführt: „Ein kluger Machthaber kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde und wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn zu seinem Versprechen veranlasst haben“. Nach Machiavelli hat es einem Herrscher noch nie an rechtmäßigen Gründen gefehlt, seinen Wortbruch zu bemänteln.

      Uns vertraut erscheint seine Feststellung „ Die Handlungen aller Menschen und besonders die eines Herrschers, der keinen Richter über sich hat, beurteilt man nach dem Enderfolg. Ein Herrscher braucht also nur zu siegen und nur seine Herrschaft zu behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll angesehen und von jedem gelobt.“

      Machiavellis Verhaltensempfehlungen für absolutistische Herrscher waren für den Umgang mit anderen Fürsten gedacht. Da diese Fürsten der Auffassung waren, der „Staat bin ich“, war jede ihrer Lügen eine Lüge aus Staatsräson. In den modernen Demokratien ist das Volk der Souverän und dennoch scheinen viele Volksvertreter Machiavellis Empfehlungen zu folgen.

      Aber die Versuchung, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, ist offensichtlich für alle groß. Jeder von uns lügt durchschnittlich zweihundertmal am Tag oder zweimal in einem zehnminütigen Gespräch, haben Psychologen herausgefunden. Deshalb urteilt der Kabarettist Dieter Nuhr auch nachsichtig über Politiker: „Die sind doch nicht ehrlicher oder verlogener als wir alle. Politiker sind ein Spiegel ihrer Wählerschaft1.“

      Und was würde wohl aus mancher Freundschaft, was aus mancher Partnerschaft, wenn man immer geradeheraus die ungeschminkte Wahrheit sagte? Die lässlichen Lügen retten so manchen Abend, manchmal sogar Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse, ohne dass sie gleich zu Lebenslügen werden. Wer kennt sie nicht, die kleinen Lügen aus Höflichkeit, die „white lies“, die Schlimmeres verhindern sollen? Spricht der Volksmund nicht die Wahrheit, wenn er sagt: „Wer immer ganz offen ist, kann nicht ganz dicht sein?“. Hat nicht Heiko Maas, der Chef der Saar-SPD recht, wenn er, wie bei der Entgegennahme des humoristischen „Erz-Lügner-Toton-Preises“ 2006, spottet: „Die schlimmste Wahrheit ist die halbe Wahrheit, aber in schlechten Zeiten wie diesen muss man auch mal mit der Hälfte zufrieden sein. Die Schlimmsten sind nicht die, die manchmal die Unwahrheit sagen, sondern die, die keinen Spaß verstehen.“

      Sicher können Täuschungen und Vorspiegelungen falscher Tatsachen ihren humoristischen Reiz haben, man lacht ja gerne über Aprilscherze oder Fernsehsendungen wie „Verstehen Sie Spaß?“, wenn man an der Nase herumgeführt wird. Aber wenn Politiker Wähler an der Nase herumführen, hört der Spaß auf.

      Üb immer Treu und Redlichkeit singt heute kaum noch jemand, Loblieder auf die Lüge sind häufiger zu hören. Claudia Mayer schrieb in ihrem Buch „Lob der Lüge“, Lügen gehörten zum Leben und zum Menschsein, sie seien Evolutionsmotor, Überlebensstrategie und eine Art soziales Schmiermittel, sie hielten unsere Welt zusammen. Die Autorin übersah allerdings, dass es in der Politik und in der Gesellschaft nicht anders ist als in einer Partnerschaft oder einer Familie. Eine Lüge zieht die nächste nach sich. Die Lügner verirren sich in ihrem Labyrinth der Unwahrheiten und finden nur schwer wieder heraus. Sie müssen kehrt machen. Spätestens dann sind sie entlarvt.

      Trotz dieses Entdeckungsrisikos stimmte der Göttinger Politologe Franz Walter im Spiegel2 einen Lobgesang auf die Lüge an. In der Politik gehe es um Macht, nicht um Sinnstiftung, nicht einmal um Glaubwürdigkeit, schrieb Walter und fügte hinzu: „Ein Politiker, der ein „grundehrlicher Kerl“ sein möchte, wäre eine katastrophale Fehlbesetzung“.

      Sicher mag es erhellend sein, wenn die Psychologie feststellt, dass Lügen menschlich ist, auch das Tierreich kennt Tarnung und Täuschung zur Erlangung evolutionärer Vorteile, aber Demokratie ist auf Wahrheit angewiesen. Die Bürger müssen wissen, welche Wahl sie haben und was sie wählen, sonst verkommt jeder Urnengang zur Farce. Sie müssen den Gewählten vertrauen können. Politiker, die wider besseres Wissen falsche Versprechungen machen, müssen mit medialen Ausbrüchen der Empörung rechnen, wenn ihre Lügen entdeckt werden, sie unterminieren das Vertrauen in das demokratische Staatswesen an sich. Auch Politiker, die ein erkanntes Problem und dessen Lösung verschweigen, lügen auf eine subtile Art. Werden sie der Lüge überführt, ist nicht nur ihr eigenes Ansehen beschädigt. Ihr Verhalten entmutigt diejenigen, die sich engagieren wollen, sie vermehren die Politikverdrossenheit und stärken das Lager der Nichtwähler.

      Nach einer Umfrage vom April 2008 haben noch 60 Prozent der Deutschen Vertrauen in das demokratische System der Bundesrepublik. Im Osten gilt das nicht einmal mehr für die Hälfte der Befragten (44 Prozent)3. Das sind alarmierende Zahlen. Wie viel von diesem Vertrauensverlust mag auf das Konto der Valium-, Leimruten-,Verharmlosungs- und Verdrängungslügen, der falschen Versprechungen und Wortbrüche gehen?

      Die meisten dieser Lügenvarianten sind schon vor einer Wahl zu erkennen, nicht nur, weil der politische Gegner mit Lügenvorwürfen schnell bei der Hand ist, sondern weil Journalisten die falschen Verheißungen und Versprechungen kritisch

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