Wie viel Lüge verträgt die Politik?. Rainer Nahrendorf

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Wie viel Lüge verträgt die Politik? - Rainer Nahrendorf

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vorhanden sei. Ein solch lutherisches Format fand sich in der hessischen SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger, die das SPD-Wahlversprechen nicht brechen wollte. Sie weigerte sich trotz der Nötigungsversuche aus ihrer Partei, für Frau Ypsilanti als Ministerpräsidentin zu stimmen, wenn diese nur mit den Stimmen der Linken Regierungschefin werden könnte. Daraufhin stellte sich Andrea Ypsilanti − zunächst − nicht zur Wahl, arbeitete aber auf die Tolerierung einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen durch die Linkspartei hin.

      Das Vorgehen Ypsilantis und Becks führte dazu, dass im ZDF-Politbarometer7 57 Prozent aller Befragten erwarteten, die SPD werde, wenn sich dafür bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit ergebe, mit der Linkspartei und den Grünen eine Koalition eingehen. Allerdings bewerteten 67 Prozent der Befragten eine rot-rot-grüne Koalition im Bund zugleich als schlecht, selbst 63 Prozent der SPD-Anhänger sahen das so.

      Ypsilanti ließ sich weder von dem Gegenwind der öffentlichen Meinung noch von den mittlerweile erfolgten Warnungen der SPD-Bundesspitze vor einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei beeindrucken. Sie kündigte einen zweiten Anlauf für ihre Wahl zur Ministerpräsidentin und die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung in Hessen an, die von der Linkspartei toleriert werden sollte.

      Mit ihrem Wortbruch hatte Frau Ypsilanti ihre Glaubwürdigkeit verspielt, auch für die Mehrheit der Meinungsmacher. Der Chefredakteur des Cicero, Wolfram Weimer, kommentierte, Frau Metzger habe es mit Immanuel Kant gehalten: Was Du einmal versprochen hast, das darfst Du nie mehr brechen. Der große Aufklärungsphilosoph sei maßgeblich schuld daran, dass wir Deutsche ein ziemlich rigoroses Verhältnis zur Lüge haben. Das hätte Andrea Ypsilanti wissen können, als sie plötzlich mit der Linkspartei anbandelte. Und die Bild-Zeitung hatte mit „Frau Lügilanti“ eine dankbare Bösewicht-Besetzung im Theater des Politischen gefunden.

      In Deutschland ist auch anderes „Lügentheater“ wie das „Waterkantgate“ mit dem „Ehrenwort“ unvergessen, mit dem Uwe Barschel abstritt, von den Verleumdungsaktivitäten seines Medienreferenten Pfeiffer gegenüber seinem Wahlherausforderer Björn Engholm gewusst zu haben. Untersuchungsausschüsse weckten daran Zweifel, sie ergaben, dass Barschel zumindest Mitwisser war und Mitarbeiter zu falschen Aussagen gedrängt hatte. Engholm wurde später selbst überführt, die Unwahrheit gesagt zu und einen Meineid geschworen zu haben. Er entging allerdings der Bestrafung, weil der Meineid verjährt war.

      Einige Strategen der Macht ziehen aus der Aufdeckung von Wortbrüchen und Unwahrhaftigkeiten allerdings nicht den Schluss, es sei besser, dem Wähler reinen Wein einzuschenken. Die Dosierung der Wahrheit erscheint ihnen Erfolg versprechender.

      Dosierte Wahrheiten

       Das Wahre ist eine Fackel, aber eine ungeheure;

       deswegen suchen wir alle nur blinzelnd,

       so daran vorbei zu kommen,

       in Furcht sogar uns zu verbrennen.“

       Johann Wolfgang von Goethe

      Der Bürgerkonvent, eine 2003 gestartete Reforminitiative engagierter Bürger, war nicht der Meinung, dass bei Wahlen die Regel gilt „Weh dem, der lügt“. In seinem Manifest aus dem Jahr 2003 hieß es: „Wer die buntesten Träume verspricht, verbessert seine Wahlchancen ...Wer die Wahrheit verbirgt, spekuliert nicht ohne Grund auf Vorteile im politischen Wettbewerb.“

      Sollte es besser heißen: „Weh dem, der nicht lügt?“ Die Autoren des Manifestes schienen davon überzeugt zu sein, konstatierten sie doch: „Nur wenige Politiker erlangten die Gunst der Wähler, wenn sie die Wahrheit sagten. Weit länger ist die Liste derer, die hierfür mit dem Verlust ihres Mandats bestraft wurden.“ Der frühere Bundestagsabgeordnete Oswald Metzger ist dafür ein Beispiel. Die Grünen verweigerten dem durch finanzpolitische Wahrheiten unbequem gewordenen Haushaltsfachmann 2002 und 2005 einen aussichtsreichen Platz auf der baden-württembergischen Landesliste.

      Die meisten Wahlkampf- und Kommunikationsprofis halten eine Strategie dosierter Wahrheiten für Erfolg versprechender als eine Strategie der Ehrlichkeit.

      Auch einige Politiker machen beim Umgang mit der Wahrheit feine Unterschiede. Konrad Adenauer erklärte sie im Dezember 1959 in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion so: „Wissen Sie, meine lieben Parteifreunde, mein Freund Pferdmenges hat drei verschiedene Bezeichnungen der Wahrheit. Er sagt: Das ist die Wahrheit. Dem gegenüber steht der Ausdruck, das ist die reine Wahrheit. Und wenn es ganz hoch geht, sagt er, das ist die lautere Wahrheit. Ich verspreche Ihnen, die reine Wahrheit zu sagen. Ich entnehme ihren Mienen, dass Sie damit ganz zufrieden sind.“

      Absolute Wahrhaftigkeit in der Politik, hatte der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geissler dem Stern8 gesagt, wäre eine „fundamentalistische Überforderung“ Auch Geissler warb für eine Taktik der dosierten Ehrlichkeit. Was man keinesfalls machen könne, sei etwa zu versprechen, man werde die Steuern nicht erhöhen und tue es nachher doch. „Aber man muss vorher nicht unbedingt sagen: Ich will die Steuern erhöhen“. Taktisches Verschweigen einer unangenehmen Wahrheit sei noch kein Verstoß gegen die Ehrlichkeit, ebenso wenig wie das markige Verkünden einer Wunschvorstellung. Machiavelli hätte an dieser Theorie der dosierten Ehrlichkeit gewiss seine Freude gehabt.

      Aber nicht nur Politstrategen, auch Journalisten scheinen der Strategie der dosierten Wahrheit anzuhängen. Der in Die Zeit für Literatur verantwortliche Ulrich Greiner warf im Jahr 2000 in einem Essay die Frage auf, wie wohl eine Republik beschaffen wäre, die vom „Tugendterror der Wahrhaftigkeit“ beherrscht würde. Er fragte sogar, ob nicht Macht und Lüge unzertrennlich seien und ob die Belogenen nicht selbst Anteil an der Lüge hätten, weil sie den Politikern die unverhüllte Wahrheit verübelten und sie auch im privaten Leben scheuten.

      Ebenso argumentierte der Redakteur Alexander Cammann9,.Er schieb, ein moralisierender Blick auf die Politik sei zumeist ein Produkt der Heuchelei „Politik und Lüge sind zwei Seiten einer Medaille, so möchte man meinen − und so beklagt sich der Steuerhinterzieher jeden Abend an seinem Stammtisch.“

      Der Manager des Unionswahlkampfes von 2002, Michael Spreng, antwortete auf die Frage des Nachrichtenmagazins Spiegel10, warum die Menschen im Wahlkampf von den Parteien höchstens die halbe Wahrheit hörten: „Die Leute wollen keine Reformen, weil sie Angst vor den Folgen für ihr eigenes Leben haben, aber auch keinen Stillstand. In diesem Spannungsfeld finden Wahlkämpfe statt. Zum Betrug gehören immer auch diejenigen, die von der Regierung betrogen werden wollen“.

      Aber welches ist die Wahrheit, die so grausam ist, dass sie der Bürger nur in kleinen Dosen verträgt? Ist es das langfristig Notwendige, für das es so schwer ist, kurzfristig Mehrheiten zu finden?

      In dem Herunterspielen von Schwierigkeiten, absehbaren Engpässen, Konflikten und Haushaltsdefiziten sehen einige Politologen eine sogar manchmal notwendige Voraussetzung für erfolgreiche politische Initiativen. „Wenn alle Beteiligten tatsächlich immer alles wüssten, was sie wissen könnten, dann hätte diese komplette Kenntnis einen vielleicht so niederdrückenden Entmutigungseffekt, dass politisches Handeln vollends in Lethargie und Fatalismus unterginge. argumentierte Claus Offe in einem Essay über „Die Ehrlichkeit politischer Kommunikation“11

      Ergibt sich die „dosierte Wahrheit“ also aus der Schwierigkeit der „Wahrheitsfindung“? Gibt es neben den politischen Durchsetzungsschwierigkeiten schon zuvor Erkenntnisschwierigkeiten, sich heillos widersprechende Gutachter-, Mehrheits- und Minderheitsmeinungen in Sachverständigenräten und Beiräten?

      Es gibt sie wohl nicht,

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