Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen. Friedrich Gottschalck
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unter uns wäre wohl die Erinnerung des Zaubers erloschen,
mit welchem diese Mährchen unser kindliches
Gemüth ergriffen, wenn wir mit lauschendem Ohre
und hingegebenem Staunen vor der Pflegerin standen,
und jedes Wort auffaßten, daß ja keins verloren ginge,
bis das grausende oder liebliche Ende der Sage uns
ausrufen ließ: Noch ein Mal, noch ein Mal!
Diese unsere vaterländischen Mythen nun aufzubewahren,
sie vor dem gänzlichen Vergessen zu sichern,
beabsichtige ich durch die Herausgabe dieser Sammlung.
Mein Plan ist, sie zu einer möglichst vollständigen
zu erheben, und ich gedenke ihn durchzuführen,
wenn ich, außer der Benutzung schon vorhandener
ähnlicher Sammlungen und sonstiger mir zu Gebote
stehender Hülfsmittel, so glücklich bin, Freunde für
mein Unternehmen zu gewinnen, die mir vorzüglich
solche Mährchen mittheilen, welche noch nirgends
aufgefaßt wurden, und nur im Munde des Volks fortlebten.
Finde ich diese, dann überlasse ich mich sehr
gern der Hoffnung, eine Bibliothek der deutschen
Volksmährchen entstehen zu sehen, die vielleicht für
Deutschland dasselbe werden könnte, was L e -
g r a n d ' s Sammlung für Frankreich ist: eine Sammlung
von historisch-romantischen Erzählungen nicht
bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern
auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen
Geschichtsforscher. Daß hierbei manche
Sage mit unterlaufen wird, die eben kein Dichtergeist
belebt, die sich nicht durch charakteristische Züge
auszeichnet, ist gewiß, aber bei dem mir vorgesteckten
Ziele nicht wohl zu vermeiden.
Da jede Volkssage an Eigenthümlichkeit verlöre,
und die wenigen historischen Goldkörner, die sie vielleicht
besitzt, rein verflüchtigt würden, wenn man sie
nicht in der Sprache des Volks, mit Vermeidung aller
fremdartigen Zusätze und ohne eine willkürliche Ausdehnung,
geben wollte, so müssen auch diese Rücksichten
durchaus beachtet, und niemals verlassen werden.
Sie sollen daher in der ihnen eignen schmucklosen
Sprache und möglichst so, wie sie unterm Volke
lauten, erzählt werden, und wer mir einen dankenswerthen
Beitrag liefern will, den bitte ich, dieß nicht
zu vernachlässigen. Durch fremdartige Zusätze, durch
weiteres Ausdehnen, durch eine romantische Bearbeitung,
würde die Erzählung vielleicht an Unterhaltung,
aber nur auf Kosten der Originalität, gewinnen, und
das wäre meiner Absicht und der guten Sache ganz
entgegen.
Wie sehr ich auch überzeugt bin, daß echte Volkssagen,
durch eine zweckmäßige Anordnung – sie sey
nun auf die Zeitfolge oder auf die Oertlichkeit gegründet
– für den Forscher an Werth gewinnen würde, und
so gern ich diesen Forderungen entsprochen haben
möchte, so stellen sich jedoch eine Menge von Hindernissen
der Ausführung entgegen, die schwerlich
ganz zu beseitigen seyn dürften. Die Entstehungsperiode
eines Mährchens aufzufinden, gelingt höchst selten,
und auch dann nur in so weit, daß man ungefähr
das Jahrhundert, aus dem es hervorging, anzugeben
vermag. Nur von denen, worin eine historisch bekannte
Person auftritt, z.B. Kaiser Friedrich II., der in den
Mährchen vom Kiffhäuser die Hauptrolle spielt, läßt
sich mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit dem Ursprunge
näher kommen. Bei dem bei weitem größten
Theile ist jede Nachforschung durchaus vergebens,
und die Idee einer chronologischen Anordnung bleibt
daher ein unausführbares Beginnen.
Mit weniger Hindernissen würde eine Anordnung
nach Gegenden, nach Ländern verknüpft seyn, und
wem es vergönnt wäre, alle die Gegenden, wo Volkssagen
vorzüglich zu Haus sind, selbst, und in der Absicht
zu ihrer Aufsammlung genau durchstreichen zu
können, dem dürfte es vielleicht gelingen, sie alle aufzufinden;
allein, wer kann das? Und wenn es Jemand
könnte, so würde ihm doch wohl, selbst bei der größten
Sorgfalt, manches Mährchen entschlüpfen. Wenn
es nun auf diese Art nicht möglich ist, den Zweck der
Vollständigkeit zu erreichen, so wird es auch durchaus
auf keine andere möglich seyn. Für mich geht
hieraus die Ueberzeugung hervor, daß eine chronologisch
oder nach Länderbezirken geordnete vollständige
Sammlung der deutschen Volksmährchen so lange
noch ein unerreichbarer Wunsch bleiben wird, bis von