Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen. Friedrich Gottschalck
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sie sind da, sie werden erzählt, sie gefallen, sie reizen,
aber wer sie erdacht, wer sie zuerst erzählt habe, ist
unbekannt.
Und durch dieses alles werden sie nun dasjenige,
wofür sie eigentlich gehalten werden müssen, nämlich
der Kreis und Inbegriff der gesammten Volks-Dichtung:
sie enthalten den Stoff der ganzen National-Poesie,
und was von dieser überhaupt gilt, das findet auf
sie ebenfalls Anwendung.
Wenn wir annehmen, daß wohl jeder Mensch von
Zeit zu Zeit das Stückwerk seines Daseyns lebhaft
empfindet, daß er sich bald durch die Noth des Augenblicks,
bald durch das Dunkel der Zukunft, hier
durch die eigene Kurzsichtigkeit, dort durch fremde
Verkehrtheit, immer aber durch ein räthselhaftes Geschick,
und durch eine unübersehbare und unerforschliche
Weltordnung gedrückt, gehemmt und beschränkt
fühlt; so werden wir es sehr begreiflich finden, daß er
sich auch dann und wann hinaus sehnt aus der Enge
und Verwirrung dieses Lebens in eine Welt voll erkannten
Zusammenhanges, wo alle billigen Wünsche
erfüllt, jede Sehnsucht befriedigt, der Schmerz versöhnt,
und die Thränen getrocknet werden. Da aber in
der weiten Wirklichkeit eine solche Welt nicht vorgefunden
wird, so ist es ebenfalls natürlich, daß der
Mensch sie sich selbst auferbaut in Träumen, Wünschen,
Hoffnungen und Ahndungen. Und so entsteht
ihm dann jene wunderbare Welt der Dichtungen,
wohin der Geist so gern sich flüchtet aus den kleinlichen
und drückenden Verwicklungen des alltäglichen
Lebens, und worin er nicht sowohl wirklichen Ersatz
für den Druck des Lebens, als vielmehr nur ein tröstliches
Bild und eine Bürgschaft finden will von einer
zusammenhängenden, weisen und gerechten Ordnung
der Dinge. Damit aber die solchergestalt erschaffene
Welt nicht bloß als ein Reich phantastischer Gebilde
erscheine, so knüpft er sie gern mit festen Banden an
die Wirklichkeit fest. Bekannte Gegenden und Orte
müssen den Hintergrund bilden, geschichtliche Personen
geben ihre Namen her, oder wahre Begebenheiten
werden auf irgend eine Weise hinein verflochten; und
wie die meisten Menschen gerne ihrer Jugend gedenken,
sie als eine Zeit des Glückes und der Zufriedenheit
sich vorzustellen pflegen, und so aus der Erinnerung
einer besseren Vergangenheit Erheiterung und
Trost in der Gegenwart hernehmen mögen, so werden
auch jene Dichtungen am liebsten in eine frühere, oft
dunkle, aber immer als glücklicher gepriesene Vorzeit
verlegt. Endlich aber werden ungewöhnliche und
abenteuerliche Verhältnisse und wunderbare Wesen
und Gestalten hineingewebt, theils als Reiz und Spiel
der Einbildungskraft, theils als Zeugniß von dem in
der menschlichen Seele tief gegründeten Glauben an
einen unergründlichen Weltzusammenhang, theils
endlich als immerwährende Erinnerung, daß das
Ganze doch nur menschliche Erfindung und Spiel sey.
Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall
und zu allen Zeiten. Ihre Quelle ist die im menschlichen
Gemüthe gegründete unverwüstliche Sehnsucht
nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden
Zustande, und sie selbst erscheint zugleich als
Spiegel und als Gegensatz der Wirklichkeit, als bedeutsames
Bild einer wünschenswerthen Weltordnung
und als Inbegriff der unerfüllten Ansprüche an das
Leben. –
Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten
sowohl als der einzelnen Charactere und selbst der
augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten
vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst
verschieden sind, so müssen auch die einzelnen Dichtungen
darnach eine sehr ungleiche Gestalt zeigen.
Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter
spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und
dann wieder tröstlich beruhigend, bald vollständig beglückend,
bald tragisch versöhnend, immer aber doch
auf die eine oder die andere Weise besänftigend und
befriedigend.
Und auf gleiche Weise verhalten sich nun auch die
Volkssagen. Alles, was von der Poesie hier im Allgemeinen
gesagt worden ist, gilt von ihnen; ja, es bewährt
sich an ihnen gerade recht auffallend, und ihr
Inhalt, so verschiedenartig er auch seyn mag, beweiset
dieses. Wenn ein verzauberter Kaiser auf seiner verfallnen
Burg sich bald einem alten Bergmann, bald