Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann

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Wo ist deine Heimat? - Andy Hermann Das Seelenkarussell

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an anderen Terminen habe sie selbst keine Zeit, Zeiteinteilung sei das halbe Leben, das müsse Vera eben noch lernen. Und vor Weihnachten ist die Auswahl größer, und das Kleid, sei nach Weihnachten sicher nicht mehr zu haben, das sei etwas ganz Besonderes.

      So war Vera nichts anderes übriggeblieben, als hier aufzukreuzen und sich das Kleid zeigen zu lassen. Sie nahm sich dabei fest vor, wenn es ihr nicht gefiele, würde sie es sich auf keinen Fall einreden lassen. Eigentlich hielt sie nichts von Kleidern. Jeans und Pulli waren ihr lieber, aber beim Abiturball ging es eben nicht anders.

      Vera lebte als Einzelkind mit ihren Eltern in einem recht geräumigen alten Haus aus der vorletzten Jahrhundertwende draußen in Othmarschen, einem gut situierten Villenvorort. Georg, ihr Vater war Geschäftsführer der Hamburger Niederlassung eines weltweit operierenden IT Konzerns. Anke, Ihre Mutter, liebte ihren Job als Lehrerin für Physik und Mathe an der nahen Realschule.

      Der Wunsch nach einem Geschwisterchen war Vera schon als Kind nicht erfüllt worden. Ihre Eltern hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, aber irgendwie hatte es nicht funktionieren wollen, bis sie sich schließlich damit abgefunden hatten. Und Vera konnte sich nicht beklagen, sie hatte liebevolle Eltern und war in einer behüteten Umgebung aufgewachsen.

      Anke, klein, zierlich und quirlig, lud sich immer so viele Verpflichtungen und Termine mit Schule und anderen Hilfsaktivitäten auf, dass Vera oft erklärte, es würde sie nicht wundern, wenn Anke einmal an zwei Orten gleichzeitig gesehen würde.

      Vera war da ganz anders, ruhiger und auf eine Sache konzentriert. Sie war hübsch, empfand sich aber selbst nicht so, da sie sich zu burschikos fand. Und außerdem war sie zu groß, wie sie sich erfolgreich bei einsvierundsiebzig einzureden versuchte. Ihre Freundinnen waren alle kleiner als sie und sie gefiel sich mit ihrer Figur gar nicht. Ihre Mutter war ganz anderer Meinung und fand Vera wunderhübsch, aber was zählte schon die Meinung der eigenen Mutter, wenn es um Schönheit ging.

      Vera fingerte ihr Smartphone aus der Tasche um ihre Mutter anzurufen, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie den Laden finden sollte, in dem das Traumkleid ihrer Mutter hing. Anke hatte das viel zu vage beschrieben. „Irgendwo auf der zweiten Galerie“, hatte sie gesagt.

      „Nimm die Rolltreppe und komm herauf“, war die Antwort ihrer Mutter, „Ich kann dich von oben schon sehen, wo bleibst du nur so lange.“

      Anke machte Stress, das war das einzige, was sie an ihrer Mutter hasste. Da hatte sie sich nach einem langen Schultag mit der überfüllten S-Bahn ins Zentrum gequält und zerging hier fast vor Hitze, und dann noch Vorwürfe. Das Leben war nicht fair. Ober ihr konnte sie nur Weihnachtsdekoration sehen, ihre Mutter war nicht auszumachen.

      Sie wollte die Kleideraktion rasch hinter sich bringen und drängte auf der Rolltreppe an vielen Leuten vorbei nach oben. Erste Etage, und hinüber zur anderen Rolltreppe, zweite Etage und dann stand sie unvermittelt vor ihrer Mutter, die auf ein Kleid in einer Auslage deutete und statt einer Begrüßung sagte: „Na, wie gefällt es dir, ist es nicht wunderhübsch, es passt perfekt zu dir.“

      Genau in der Mitte der Auslage einer teuren Boutique hing ein wunderschönes gelbes Ballkleid mit Spitzenbesatz und einem eng geschnittenen tief dekolletierten Oberteil aus gelbem Satin.

      „NEIN“, entfuhr es Vera, „KEIN GELBES KLEID“!

      Ein Gedankensplitter an ein gelbes Minikleid stieg in ihr hoch, sie wusste nicht warum, bekam aber plötzlich die Panik. Dieses Gelb vom Ballkleid war genau dasselbe, wie von dem Minikleid, dass sie in einem kurzen Flash Back deutlich vor sich sah. Ein Gefühl von Tod und Sterben durchflutete sie, ihr Verstand setzte völlig aus.

      „Weg, nur schnell weg“, war der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf war. Die Unlogik ihres Verhaltens drang nicht in ihr Bewusstsein.

      Sie drehte sich ruckartig vom Ballkleid und ihrer Mutter weg und begann zu laufen, während ihre Mutter ihr fassungslos nachsah und rief, „Vera, was hast du, wir können ja auch ein anderes Kleid kaufen, wenn du so dagegen bist“. Doch Vera hörte nicht, was ihre Mutter rief, sondern rannte unbeirrt weiter und rempelte dabei einige Leute, die ihr im Weg standen, unsanft beiseite. Völlige Panik hatte sie erfasst.

      Hier oben auf der zweiten Etage war das Gedränge nicht ganz so schlimm, wie unten im Erdgeschoss, so dass Vera schon etliche Meter zurückgelegt hatte, als eine mächtige unsichtbare Faust sie von hinten erfasste und ihre Beine mit Wucht nach vorne geschleudert wurden. Sie verlor das Gleichgewicht, wurde mitgerissen und als die Druckwelle verebbte, krachte sie mit dem Hinterkopf auf den Steinboden und verlor das Bewusstsein. Den dumpfen Knall der Explosion hatte sie nicht mitbekommen.

      Kapitel 2

      Es ist ein unbeschwerter Sommer und es sind Ferien. Eineinhalb Jahre vor den Ereignissen in der Shopping Mall radelte Vera durch die engen winkeligen Gässchen von Othmarschen, einem Hamburger Villenvorort.

      Die Sonne schien heiß, doch unter den schattigen alten Bäumen, die es hier überall gab, war es angenehm kühl und fast ein wenig zu schattig.

      Vera war zu spät dran, sie war zum Tennis verabredet und hatte sich mit ihrem Tablet in der Zeit vergoogelt und in ihrer Community zu lange Messages getauscht. Zuerst Tennisstunde und dann eine Partie mit Marie, ihrer besten Freundin. Und der Tennislehrer schätzte es gar nicht, wenn sie zu spät kam. Da könnte sie sich wieder etwas anhören, von wegen Pünktlichkeit.

      Sie beeilte sich mächtig und trat kräftig in die Pedale. Sie sah nicht nach links und rechts, als aus dem Schatten eines Quergässchens ein anderer Radfahrer wie aus dem Nichts von rechts auftauchte, und seitlich in ihr Vorderrad krachte.

      Dessen Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass sie beide nicht zu Sturz kamen, da er Vera gesehen hatte, und eine veritable Notbremsung hinlegte, die aber erst in Veras Vorderrad ihr Ende fand.

      Sie schlitterten mit ihren Rädern ineinander verkeilt schräg über die kleine Kreuzung und kamen erst beim Randstein zu stehen. Beide noch immer die Lenkstangen ihrer verkeilten Räder in der Hand, die Füße aber schon auf dem sicheren Boden.

      „Hast du keine Augen im Kopf, du hast Nachrang!“, rief der unbekannte Radfahrer heftig aus.

      Vera war so erschrocken, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Dann erst sah sie den Fremden an, der so unmittelbar und ganz nahe vor ihr stand, da die Kotschutzbleche sich ineinander verhakt hatten und noch keiner der beiden abgestiegen war.

      Es war ein hübscher junger Mann mit rabenschwarzem Haar mit einer angesagten Igelfrisur stilisiert, die den richtigen Kontrast zu seinem dunklen Dreitagesbart abgab. Das enganliegende Radtrikot verdeckte einen muskulösen und trainierten Oberkörper.

      Er sah Vera an, die sich nur rasch ein T-Shirt zur Radlerhose übergeworfen hatte, denn ihre Tennissachen hatte sie im Club, wie wenn er noch nie ein Mädchen so nahe gesehen hätte.

      Vera, die sich nun von ihrem Schreck erholt hatte, erkannte sehr rasch, dass sie Nachrang gehabt hatte und sah ihrerseits den jungen Mann groß an.

      „Tja, ich glaube, da habe ich nicht geschaut, …“, meinte sie schließlich verlegen.

      „Ich bin Ali“, entgegnete dieser und klang dabei auch recht verlegen.

      „Ich heiße Vera“, erwiderte sie und wunderte sich, wieso sie auf einmal so verlegen war.

      „Migrationshintergrund, na klar“, schoss es Vera politisch korrekt durch den Kopf. „Typischer südlicher Typ, etwas

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