Verloren. Josef Rack
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Die Gedanken entschweben.
Mischt sich da nicht auch der Geruch von Lokomotivenrauch in die Nase?
Wirre Geräusche - Stimmen - Kommandos - weinende Kinder - Rufe - das Fauchen der Lokomotiven - das Rattern von Zügen? Tscht-tscht – tscht-tsch - klack-klack – klack-klack - klock-klock – tock-tock – toni-toni - toni-toni … Toni ….
Kalt wird’s langsam im Zimmer. Der Mann kniet auf dem Boden und liegt mit dem Oberkörper über dem Bett. Wie viel Zeit ist vergangen?
Eine Stunde? - Ein Tag? – Jahre? - 40 Jahre?
Die Hände sind ineinander verschlungen.
Seine langen Haare bedecken das liebe, kalt werdende Gesicht der alten Frau.
„Toni – Toni … mein Bub …“
Der Zug rattert weiter: Toni-Toni - mein-Bub – mein-Bub, Bub-Bub…
Ihre Hand gleitet aus seiner…
Wie im Film schweben die Wolken in der Ferne vorbei.
Neue tauchen auf, um auch wieder auf der anderen Fensterseite zu entfliehen.
Seine Gedanken führen einen Kampf - sie wollen bei der Mutter bleiben.
Die Wolken verlocken sie jedoch sich anzuhängen, mit ihnen zu fliegen, - lassen sich nicht mehr bändigen - sie fliegen … fliegen… fliegen…
* * *
Durch den beißenden Rauch erscheint, zuerst unklar, auf der Bahnstation unbeschreibliches Chaos. Details werden immer deutlicher: abgestellte Transportwagen, Vieh-Transporter, teils zu Schrott bombardiert, ebenso viele Militärfahrzeuge, Panzer, zerstörte Gebäude.
Dazwischen eine Unzahl von Soldaten, Zivilisten. Ohrenbetäubender Lärm.
Ausgemergelte Gestalten in zerlumpten Wehrmachtsuniformen oder was noch davon übrig blieb, bemühen sich, teils mit primitivem Werkzeug, teils von Hand, die Gleise zu reparieren. Andere hantieren an Schrott-Fahrzeugen. Überall Bemühungen, in das Chaos Ordnung zu bringen. Was man vom Schrott irgendwie verwerten kann, wird ausgebaut, um andere Teile wieder gangbar zu machen.
Erbärmlich gekleidete Soldaten, aber mit Waffen im Anschlag beaufsichtigen die Bauarbeiter, die offensichtlich Gefangene sind. Dazwischen hörte man deutsche Sprachfetzen. Mancher wird mit einem Gewehrkolben zur Eile angetrieben.
Neugierige Zivilisten werden auf Distanz gehalten. Jeglicher Kontakt mit diesen bedauernswerten Menschen ist verboten.
Die Zivilisten halten sich sowieso auf Abstand, schon damit sie möglichst nicht mit diesen Soldaten zusammen kommen, mit diesen will niemand etwas zu tun haben.
Vereinzelte Worte in einer fremden Sprache sind zu vernehmen, offensichtlich russisch.
Nur ein Kommandant pflegt offiziellen Kontakt mit der Seite der Zivilisten.
Ein Lagerkommando, bestehend aus ausgedienten Wehrmachtsangehörigen, versucht, etwas Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen.
Fernes Pfeifen und dunkler Rauch kündigt einen neuen Transportzug an.
Fauchend nähert sich die Lokomotive im Schritttempo.
Ein neuer „Vieh“-Transport fährt ein, die Menschenmassen weichen zurück, Frauen ziehen ihre Kinder fort - Rufe, Schreie.
Der Zug hält - die schwarze Lokomotive steht drohend!
Heißer Dampf zischt seitlich ins Freie. Besonders die sich nahe befindlichen Personen drängen sich gegen die hinter ihnen stehenden Menschen, um nicht verbrüht zu werden. Menschen fallen übereinander.
Erbarmungslos hat sich die Lokomotive Platz gemacht.
Die Männer der mitfahrenden Wachtruppe springen von den Trittbrettern, eilen auf die einzelnen Wagen zu und stoßen mit den Gewehrkolben die Türriegel auf.
Wychodi – Wsem wychodtj! (raus! – alles raus!)
Mehr oder weniger zerlumpte Gestalten quellen aus dem Inneren und stürzen auf das Schotterbett, nachfolgende darüber. Kinder und Alte fallen heraus.
Zu Bündel geschnürte Habseligkeiten werden ins Freie geworfen, deren Besitzer springen hinterher, um sie wieder einzusammeln. Hingefallene entfernen sich kriechend. Angehörige versuchen Hilfe zu geben.
Unbeschreibliche Szenen spielen sich ab: Mütter mit kleinen Babys, in einem Tuch um die Schultern gebunden, andere ziehen die schon etwas größeren Kinder hinter sich her – nur schnell weg vom Zug. Männer drängen wieder zurück, um die sich noch in den Wagen befindlichen Habseligkeiten herauszuholen. Mancher findet seine Sachen nicht mehr, ein Anderer hat es wohl brauchen können.
Wo sollen sie hin?
Viele Menschen - sind es Hunderte? Tausende? - lagern schon in der Umgebung.
Jede Möglichkeit suchend, ob Bauruine, zerschossener Wagen, Lkw – egal. Manche haben irgendwelche Planen gespannt, Hauptsache man ist etwas geschützt.
Dazwischen qualmender Rauch, der zu Tränen reizt.
Feuer sind entfacht. Frierende Hände werden aufgewärmt. Kleidungsstücke hängen darüber zum Trocknen. Hin und wieder verteilt sich auch ein angenehmer Duft –
in Töpfen brutzelt irgendwas zu Essen.
Das neue Jahr 1946 hat erst angefangen.
Minus 10 ° C, nachts sogar noch etliches darunter. Niemand kann es messen.
Es liegt zum Glück wenig Schnee. Was heißt Schnee, hier am Lagerplatz ist davon sowieso nur wadenhoher Matsch übrig, der nachts gefriert. Den Schnee können die Menschen aber sogar gebrauchen. Sie gehen mit diversem Geschirr hinaus, um außerhalb des Lagerplatzes sauberen Schnee einzusammeln – kostbares Wasser zum Trinken, zum Kochen und um sich etwas zu waschen.
Zum Glück liegt ein kleiner Wald in der Nähe.
Mancher sucht ihn auf, um seine Notdurft zu erledigen. Andere aber haben sich hier unter den schützenden Bäumen ihr Lager eingerichtet.
Dorf-Gemeinschaften, Familien mit ihren Angehörigen, versuchen beieinander zu bleiben. Wie und wann geht es weiter?
* * *
Die Aktion der Vertreibung begann bereits 1945.
Die geschlagenen deutschen Truppen waren schon lange fort. Diejenigen, die Pech hatten, befanden sich in russischer Kriegsgefangenschaft.
In allen Ländern, von der Ostsee bis nach Jugoslawien, lebten Millionen Deutsche. Vor Jahrhunderten hatten sich diese hier angesiedelt. Damals bot sich ihnen die Möglichkeit, zu eigenem Besitz zu kommen. Die Menschen wurden sogar mit Versprechen mancher Privilegien angeworben, sich hier niederzulassen. Deutsche waren überall sehr willkommen.
So haben die Einwanderer erheblich zur Aufwärtsentwicklung