Verloren. Josef Rack

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Verloren - Josef Rack

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      „Ostawj babku lezhatj - Lass die Alte liegen“.

      Tatsächlich, je näher es Budapest zugeht, liegt hier und da ein größeres Bündel – das hier sieht doch aus wie ein Mensch? - schon teilweise mit Schnee bedeckt, teilweise schon der schützenden Decke entledigt – der am Boden Liegende braucht sie bestimmt nicht mehr.

      Hat die schon jemand mitgenommen, weil sie ein (noch) Lebender dringender brauchen kann?

      Wer ist es? – wer war es? – ist es sogar ein Bekannter? – gar ein Verwandter???

      Dies wird niemand mehr erfahren und auch die späteren Finder nicht interessieren.

      Die Gedanken dürfen sich nicht verweilen - weiter geht’s, Daljsche.

      Sie nähern sich der großen Stadt.

      Viele waren, obwohl es nur ca. 25 Kilometer sind, noch nie in ihrer Hauptstadt, haben aber oft davon geträumt, sie irgendwann einmal zu sehen.

      Dass man aber unter diesen Umständen hierher kommt, hat man sich nicht vorgestellt. Wahrscheinlich ist dies aber auch das erste und letzte Mal…

      Budapest hat man stets nur „die Stadt“ genannt, es gab ja sonst keine andere, wenigstens nicht im weiten Umkreis.

      Früh setzt heute die Dämmerung ein.

      Dunkelheit, kaum Lichter. Zerschossene Ruinen ragen wie mahnende Finger in den nachtschwarzen Himmel.

      Was sollen wir hier?

      In den Straßen, auf freien Plätzen, in Bauruinen - überall lagern schon Menschen.

      Einen Platz suchen für die eine Nacht oder für mehrere?

      Immer wieder Aufrufe, Kontrolle nach den Namenslisten.

      Die Bewohner der verschiedenen Orte müssen zusammen-bleiben.

      Militärfahrzeuge und Fußtrupps bahnen sich Wege durchs Chaos.

      Alles ist in eine bestimmte Richtung orientiert - Richtung Bahnhof.

      Züge füllen sich mit Soldaten. Militärfahrzeuge werden auf Transporter geladen.

      Lärm. Flüche. Kommandos. Nachts rollen ununterbrochen die Militärtransport-Züge in jede Himmelsrichtung. Soldaten werden fortgefahren. Gefangene aufgeladen – fort. Andere kommen an – weitere Gefangene quellen aus den Viehwagen. Die werden wohl für irgendwelche Arbeitseinsätze benötigt.

      Verwundete werden ausgeladen. Sanitätsfahrzeuge rasen, teilweise mit Alarm-Signal, durch das Menschengewühl, wahrscheinlich ins nächste Lazarett.

      Sobald der Morgen graut: Trillerpfeifen, Aufrufe zum Sammeln. Abmarsch Richtung Züge.

      Vieh-Transporter, ganz selten auch normale Personenwagen, alles was irgendwie tauglich ist, um die vielen Menschen in möglichst kurzer Zeit fortzubringen. Alles füllen. Schnell, schnell. Manches Gepäckstück bleibt liegen.

      Wagen voll? – gibt’s nicht! - immer noch mehr rein.

      Schreien. Hoffentlich sind alle Angehörigen zusammen.

      Türen, Verschläge zu! Pfeifen, Tüüüt, ab geht’s.

      Die Oma und der Opa fehlen. Wo ist der Onkel? Die Tante ist da. Ein Kind fehlt? Hoffentlich sind die im anderen Wagen vor uns!??? Sehen wir die wieder???

      Dunkel ist’s im Wagen.

      Nur durch die Ritzen blitzt etwas Helligkeit - aber auch eiskalte Zugluft.

      Wohin geht’s? Wie lange wird die Fahrt dauern? Mief breitet sich aus. Am hinteren Wagenende ist ein Loch ausgesägt.

      Stunden vergehen. Die Blase drückt. Der Magen drückt, der Darm plagt.

      Vereinzelt stellt sich schon ein Mann ins Eck.

      (Männer haben’s eben einfacher). Der Zwang besiegt letztendlich die Hemmungen. Es geht eben nicht anders.

      Man kann jetzt nicht mehr von Mief sprechen – es stinkt.

      Manche halten sich schon ein Taschentuch vor die Nase.

      Kleinkinder müssen irgendwie trocken gemacht werden. Schreien, Weinen. Mütter säugen Babys an der Brust.

      Die Menschen müssen sich verständigen und ihre Plätze wechseln. Die außen Stehenden sind schon ganz erfroren. Sie wollen auch mal zur Mitte, da ist es wärmer. Natürlich wollen die Innenstehenden nicht gern ihre warmen Plätze aufgeben. Gerangel.

      Männer haben im „bestimmten Eck“ ein Brett aus der Wand gerissen, damit der Gestank erträglicher wird. Jetzt kommt dafür aber viel kalte Luft herein.

      „Zumachen!“ schreit jemand.

      „Auflassen!“ ein anderer, der in der Mitte steht.

      „Du hast gut reden, bei dir ist’s warm!“

      So geht es. Die Stimmung ist gereizt und auf dem Tiefpunkt.

      Soll es so vielleicht tagelang weiter gehen, stellt sich mancher die bange Frage.

      Eine alte Frau ist zusammengebrochen. Die Strapazen wurden ihr zu viel. Sie will aber auch nicht mehr! Zu was denn - es geht fort - ihre Heimat ist verloren - Haus, Hof, ihr kleiner Acker - wo sind ihre Angehörigen, sie hat sie hier im Wagen nicht mehr gesehen. Warum soll sie also weiterleben?

      Für ein Sträflingslager in Sibirien? - letztendlich bis zum Verrecken? Dass sie etwas Gutes erwartet, daran glaubt sie nicht mehr. Sie liegt am Boden. Außen an der Seitenwand. Scharfer Fahrtwind zieht durch die Ritzen herein.

      Sie spürt es irgendwann nicht mehr… hat sich ein Höherer erbarmt?

      Stunden endloser Fahrt.

      Man hat kein Gefühl, in welcher Gegend man sich befinden könnte. Für sie war ja sowieso alles fremd, was mehr als ein paar Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt lag. Man ist ja nirgends hingekommen.

      Durch die Ritzen sieht man schwach, dass es schneit.

      Wird der Zug langsamer? Tatsächlich. Ruckeln. Der Zug steht.

      Nichts tut sich. Männer wollen den Verschlag öffnen. Es geht aber nicht. Die Verriegelung ist außen.

      Was haben DIE mit uns vor?

      Etwas entfernt hört man russische Kommandos.

      Hundegebell. Klagende Menschen. Ein Schuss.

      Oh Gott, wollen die uns erschießen???

      Die an der Seitenwand Stehenden starren gebannt aus den Ritzen. Da vorne sieht man Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Ihre Hunde zerren wild an ihren Ketten.

      Leidensgenossen verbreiten sich über ein freies Feld.

      Jetzt wird auch ihr Verschlag entriegelt und aufgerissen.

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