Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
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»Ludwig war ein ernstes Kind, aber auch sehr vorlaut«, sagte Verena, »ich hätte dir geraten, den Umgang mit ihm einzuschränken, wäre das möglich gewesen. Ich wusste, dass ihr zwei Jahre später ohnehin auf dem Gymnasium zusammentreffen würdet. Ich ging mit deiner Schwester, das war übrigens der Grund, weshalb wir dich in diesen Ferien nicht mitnahmen.«
Das stimmte, und doch sagte sie die Unwahrheit. Wie immer suchte sich Verena als unschuldig darzustellen, wie immer bemühte sie das Schicksal; wir konnten nicht anders, an uns hat es wahrlich nicht gelegen.
»Mama, ihr habt euren Urlaub stets allein verbracht, ich war euch im Wege.«
»Wie kannst du das sagen!? Wir hätten dich ...? Im Wege bist du uns nicht gewesen, wir haben alles für dich getan, alles. Einmal haben wir dich zumindest mitgenommen.«
Sie hatten mich mitgenommen nach Heringsdorf, aber vierzehn Tage darauf reiste ich mit dem alten Mattias nach Berlin zurück und weiter nach Wendisch-Rietz,
»Damals war ich mit Felix schwanger; und ich habe mich geschämt vor dir, einem großen Jungen.« Sie schob ihren Arm unter meinen und führte mich weiter. »Gibt es das Eierhaus noch? Ich meine, wir sollten einkehren?«
»Das ist zu weit, Mama. Wir fahren nachher in ein anderes Lokal.«
Sie gab sich zufrieden. Wir gingen hinunter zum Wasser und sahen hinüber zur ehemaligen Liebesinsel.
»Schrecklich ist diese Sucht, heute alles mit neuen Namen zu belegen.«
Ich fand das zwar auch, sagte aber nichts, denn was sie Sucht nannte, entsprang dem Bedürfnis, sich anzueignen, was einst anderen gehört hatte, in Besitz zu nehmen durch neue Namen, ein magischer Akt.
»Eher wohl Überredung, Täuschung.« Sie ahnte, was ich dachte, zwischen uns gab es seit Langem keine Geheimnisse mehr. Wir spielten unsere Rollen, unser Spiel um Vergangenheit und Gegenwart.
Sie kehrte zum ersten Gegenstand unseres Gespräches zurück. »Hat es dich getroffen, dass Ludwig damals erkrankte?«
Es war eine meiner schlimmsten Erinnerungen. Wir hatten im Park gespielt. Mit einem selbst gebauten Wagen, einem ehemaligen Kinderwagenchassis, waren wir zu dritt einen Berg hinuntergerollt, immer wieder und mit allem Mutwillen, der in solch ein Spiel kommen kann, mit Rempeln und Stoßen, bis sich Goll am Knie eine Risswunde zuzog. Aus der Verletzung entwickelte sich eine Hüftgelenkentzündung, Ludwig lag monatelang in Gips, und als er aufstand, zeigte es sich, dass sein Bein steif geworden war.
»Es war beinahe steif«, sagte Verena, »und das Schlimmste ist, dass du dir die Mitschuld daran gibst. Dein Freund Jendokeit, der Sohn dieses SS-Mannes, hat es natürlich leichter ertragen.«
Warnend drückte ich ihren Arm.
»Bin ich wieder zu weit gegangen? Habe ich nicht recht?«
»Du hast nicht recht, Verena Stadel, und letzten Endes haben wir es gerade nötig, uns über andere aufzuhalten.«
Auch Jendokeit fühlte sich damals schuldig. Wir besuchten Goll beinahe täglich. Er lag auf der Couch, seine Mutter pflegte ihn, und wir saßen um das Lager herum.
»Wenn du wieder auf bist, Weißer Adler, bauen wir uns eine Höhle.«
Goll sah Jendokeit prüfend an, dann entstand ein leichtes Lächeln auf seinem düsteren Gesicht.
»Wenn die Sieben Ratsfeuer lohen«, fügte ich hinzu, »und der Graue Biber wandert, dann wollen sich meine roten Brüder am Großen Felsen versammeln, um zu beraten, wie dem Weißen Adler zu helfen ist.«
Freundlich nickte Goll, aber ich hatte das Gefühl, ihm war unser kindliches Spiel schon recht gleichgültig geworden. Sein ›Howgh‹ klang mehr wie eine Höflichkeit als nach einer Zustimmung.
»Wir haben uns endgültig für die Apachen entschieden«, bemerkte Jendokeit. Er zog seine Flöte, blies hinein und spielte ein paar Takte eines selbst gefundenen Motivs. Wir fieberten im Sommer neununddreißig darauf, endlich die Schule zu wechseln. Zissel ging uns allen auf die Nerven. Er wusste, dass wir ihm bald entronnen sein würden.
»Solange ihr hier seid, habt ihr zu gehorchen, ich kann euch noch böse mitspielen.«
Es war Jendokeit, dem über die Hände geschlagen wurde, mit einem dünnen spanischen Rohr. Nur wenige Kinder hielten diese furchtbare Züchtigung aus. Jendokeit verbiss den Schmerz, die Tränen schossen ihm aus den Augen, nässten sein Gesicht, er hüpfte vor Schmerz von einem Fuß auf den anderen. Ich hielt vor Schreck und Mitgefühl den Atem an, spürte meinen Herzschlag. Lehrer Zissel hatte es darauf abgesehen, Jendokeit zu einem schreienden Bündel Angst herabzuprügeln, wir hörten das Keuchen des Lehrers, mit überschnappender Stimme befahl er: »Hände vor.« Jendokeit hielt die Hände jetzt hinter dem Rücken. Er weigerte sich, sie noch einmal hinzuhalten, lieber empfing er die Schläge über Schultern und Hals. Auch als er in seiner Bank saß, weinte er nur lautlos, und da er mein Nachbar war, spürte ich seine Erregung und Erschütterung, spürte aber auch seinen Mut und seinen Stolz. Und dann geschah noch etwas Unbegreifliches. Lehrer Zissel ging nach vorn, setzte sich hinter das Lehrerpult, legte den Kopf auf die Unterarme und heulte kindisch und ungehemmt. Die Klasse begann zu kichern, aus Jendokeits Kehle stieg das Lachen zuerst auf ...
»Dass du diese Übertreibungen nicht lassen kannst«, sagte Verena bei unserem Gang durch die Allee in Treptow, »ich bezweifle, ob du dich wirklich noch so genau an alles erinnerst, und du warst immer sensibel, wahrscheinlich hat keins der Kinder damals so empfunden wie du.«
»Heißt das: Du billigst diese Züchtigung?«
. »Jendokeit ist ein netter Junge gewesen, etwas wild vielleicht, sicher aber hat er eine dicke Haut gehabt.«
»Mama!«
»Reg dich nicht schon wieder auf«, ich merkte, dass sie mich zurückdirigierte, und mir war es recht. »Man soll nicht so schrecklich dick auftragen. Alles ist halb so schlimm, genau genommen«
Alles war halb so schlimm. Lehrer Zissel hielt die Klasse nach dem Morgengruß Heil Hitler, im Chor gesprochen und in soldatischer Haltung, immer noch einige Augenblicke fest, um uns die neuen Ereignisse mitzuteilen: Deutschland hat Österreich heimgeholt, Deutschland hat die Saar heimgeholt, Deutschland hat Memel heimgeholt, Deutschland hat die Sudeten heimgeholt, Großdeutschland, Deutschland, Deutschland über alles ...
Ich entsinne mich nicht der genauen Texte all dieser Reden, ich spüre noch die Stimmung, das allgemeine Gefühl, es geht aufwärts, es geht uns gut, wir sind was, wir haben was, wir werden noch mehr sein und noch mehr haben, und ich stand selbst zu oft unter den Wartenden, wenn der Führer in der schwarzen Limousine durch die Straße Unter den Linden rollte, stand dicht hinter der Postenkette, vor mir die paar Schritte Niemandsland mit der nächsten Postenkette, und wir besaßen ja auch ein Radio, hier ist der Großdeutsche Rundfunk mit allen seinen Sendern. Erfolg über den Umweg des verheißenen und erfüllten Wohlstandes. Wahrlich, wer sollte gegen diese Männer sein?
»Genau das«, sagte Verena, »und der Blockwart, so was wie, ein Hausvertrauensmann heute, und der Luftschutz, so etwas wie Zivilverteidigung heute. Ich kann nur sagen, so viel hat sich nicht verändert ...«
In der Aula unserer Schule versammelten sich Lehrer und Schüler. An der Stirnwand des Saales befand sich ein Arrangement aus Fahnen, einem großen Führerbild und dem Rednerpult. Neben