Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
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Er trank aus einem hohen alten Zinnbecher, hielt die Weinflasche gegen das Licht und bemerkte beiläufig: »In zehn Minuten schlag ich mein Wasser ab ...«
Er konnte eine Menge vertragen, und wenn er trank, war er ein redebedürftiger Mann, der sein Herz leicht öffnete.
»Jetzt raff ich Geld zusammen, dann kauf ich mir eine Insel, kaufe ich mir eine Insel«, er wiederholte sich, setzte zu einer machtvollen Vision an und verhieß mit starrem, Glauben heischendem Blick: »Dort bau ich ein großes Haus ohne Innenwände, mit 'nem Kuppeldach.«
Dann persiflierte er unvermutet: »Als Kaiser Rotbart lobesam besoffen aus der Kneipe kam ...« Er schleuderte eine Flasche, sie zerbrach, ihr Inhalt ergoss sich rot über den Amboss, und bedauernd sagte Mattias Stadel: »Da war noch was drin. Das nennt man einen Missgriff.«
Meine Großmutter gesellte sich zu uns, aus dem Stall trottete die schwarze Stute heraus und schnupperte dem Alten an den Ohren herum; sanft stieß er ihre Schnauze weg. Irgendein Köter erschien und ergänzte das bukolische Bild. Mein Großvater legte seine Hand auf die Schultern meiner stattlichen Großmutter, die sich ihren Teil an dem roten Saft sicherte. Übrigens besaß ich meinen eigenen Zinnbecher mit einem sitzenden Mann darauf, der seinen Arm um die Hüften einer Frau gelegt hatte und ihr zutrank. Der Wein stieg uns zu Kopf, ich kletterte auf den Gaul, der wie immer geduldig dastand. Heute erscheint mir dieses Bild so fremd, als gehörte es unter eine sorglosere Sonne. Und dann folgte ein Märchendialog eines Alten mit seiner Alten.
»Ich bau uns ein Schiff.«
»Du baust uns ein Schiff, Alter - na ja, und was dann?«
»Dann rüsten wir unser Schiff aus.«
»In Ordnung, das haben wir nun gemacht, und was weiter mit dem ausgerüsteten Schiff?«
»Dann legen wir ab.«
»Wohin?«
»Weiß der Teufel«, er dachte einige Sekunden lang nach, »in die Südsee, siebenmal, siebenmal bin ich ...« Mein Großvater zimmerte weiter an seiner Welt. Meine Großmutter lachte Tränen, er zog sie an sich. Die Stute trottete auf den Amboss zu und leckte den Wein auf.
Mein' Großvater war ein körperlich starker Mann, der Ortscheite über das Dach seines Hauses in Wendisch-Rietz feuerte, um sich zu trainieren. Kann schon sein, dass meine Mutter mit ihrer Behauptung recht hatte, dass es uns damals gut ging.
»Ach«, sagte sie jetzt, »der alte Stadel war ein Original, er hatte nicht gerade ein goldenes Herz, im Gegenteil, er war geizig und jähzornig, und man musste ihm manchmal aus dem Wege gehen, aber auf seine Weise war er ein ganzer Mann.«
Ein ganzer Mann - Vorstufe und zugleich äußerste Steigerung für Verena - musste jemand sein, den sie damals wie heute gern um sich duldete und anerkannte.
»Um auf die Schule zurückzukommen«, sie schüttelte den Kopf, schlug die Augen nieder und sah mich rasch an, »ich bin nie klug daraus geworden. Mir schien, du hättest dich sogar schnell eingelebt und angepasst. An deinen Zeugnissen konnten wir erkennen, dass du nur wenig Mühe hattest mitzukommen.«
»Ich erinnere mich daran kaum noch.«
»Nein, natürlich nicht, wie könntest du dich nach so vielen Jahren erinnern, ich meine nur, du willst mir doch weismachen, die Schule ist eine Qual für dich gewesen. Schule in dieser, also in jener Zeit«, sie deutete mit dem Zeigefinger in eine unbestimmte, historisch gemeinte Richtung, »und daran kannst du dich gar nicht entsinnen.«
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass es nicht um Erinnerung gehe; die sich in Daten ausdrücken lasse oder in Erfahrung, dass es um Eingebungen, Instinkte, um Gefühle gehe, die sich viel länger erhalten und auf die viel eher Verlass ist als auf Erfahrung: »Intuition ist ein Sublimat aus vielen Erfahrungen.«
Sie stimmte zu. »Du hast recht. Ich will dahinaus: Du hast in deinen ersten Schuljahren eine ganz normale Entwicklung genommen, ohne Schwierigkeiten.«
»Mama, es war eine Erziehung zum Gehorsam, ich will dir erklären, dass ich allmählich ...«
»Aber du hast sogar geweint" weil du nicht zum Jungvolk durftest, du sehntest dich nach der schwarzen Hose, dem braunen Hemd mit dem Lederknoten, dem Koppel; dein sehnlichster Wunsch ist dieses Fahrtenmesser gewesen, das ein Kind ja erst nach Erreichung seiner Initiation tragen durfte. Du wolltest unbedingt eine Trommel haben oder diese große Fahne mit der Siegrune. Erinnerst du dich wirklich nicht?«
Ich erinnerte mich wohl, aber das sind Vorgriffe.
»Und wie ist es bei deinem Kind gewesen? Nicht doch ähnlich? Von einem bestimmten Punkt an entwachsen uns die Kinder, suchen andere Kreise und Beziehungen.«
»Mama, wirfst du jetzt nicht zu viel in einen Topf? 'Beschönigt muss ja nicht auch noch werden, was passiert ist, was so natürlich und so logisch aussieht, als hätte es nicht auch anders kommen können.«
Sie nickte abwesend, ihre Geduld war erschöpft, wie ich sah.
»Aber ich bin sicherlich normal gewesen, mit Ängsten und Ahnungen, nicht dumm, wie du sagst, und so weiter, erst durch diese ...«
»Da haben wir es, wieder ist dein Komplex am Werke. Kannst du dich nicht endlich beruhigen? Du hast doch erreicht, was, du wolltest. Wir haben uns damals nicht viel wehren können und uns schließlich seufzend gebeugt – ausgenommen vielleicht der alte Stadel; ich glaube, du hast ihn richtig beurteilt -, und zum Schluss hörte man gar nicht mehr hin. Ganz wie heute. So ist es eben.« Sie schwieg. Dann leiser: »Sterne verlöschen, Sterne gehen auf, wir sind eben nichts.«
Sie hatte mich zum Schweigen gebracht, und ich frage mich, warum es ihr immer gelang, ihren Fatalismus auf mich zu übertragen. Weil sie auf einem Hort an Bewusstsein saß und weil -je länger, desto mehr- ihre Position als die sicherere erschien?
»Du tust mir leid«, bemerkte sie noch, »vor vierzig Jahren konntest du dich noch auf eine Hoffnung berufen. Es ist alles anders gekommen, nicht wahr? Von der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der Überfluss bleibt aus, und er wird sich nicht einstellen, solange du lebst, und besser ist der Mensch auch nicht geworden. Im Grunde hat sich nicht viel verändert. In dieses Zeitalter der getäuschten Erwartungen traten wir schon neunzehnhundertvierzehn ein, das ist die Wahrheit.«
Sie brach ab, ging zum Fenster und sah hinaus. Ich wusste, was sie dachte, dieser Blick aus dem Fenster, die Straße hinunter und hinauf, belehrte uns über Tatsachen.
Schweigend stellte sie das Geschirr auf ein Tablett und trug es in die Küche.
Kapitel 3
An jenem Tag war mir klar, dass sich etwas unwiderruflich in meinem sechs Jahre alten Leben verändern würde. Alles sprach dafür: die Gewichtigkeit, mit der sich mein Vater anzog, die Krawatte umlegte, die bunte Schultüte, ein nach frischem Leder duftender Schulranzen, eine im Holzrahmen steckende Schiefertafel und ein schmaler rechteckiger Kasten für Griffel. An langer Schnur sah aus dem Ranzen ein Schwamm hervor.
Erhöht wurde mein Missbehagen durch Wollstrümpfe, die meine empfindliche Haut reizten, ein Paar neue Schuhe, deren Kappen drückten, obwohl Verena sie mit dem