Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

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Dame in Weiß - Helmut H. Schulz

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Familie war Kommunismus ein Schreckwort; es bezeichnete jede Dummheit, jede Abgefeimtheit und jedes nur denkbare Verbrechen. Wir glaubten damals noch an alle jene Werte, die in einer alten Tradition standen: an Gott, an eine solidarische Glaubensgemeinschaft, identisch mit Gesellschaft und Staat, an ein deutsches Vaterland, als ein zwar unfassbares, aber heiliges Gut, an Heimat, als ein uns zugehöriger ethischer Besitz. Wir glaubten an geheime Verbindungen zwischen diesen Begriffen, die Abstraktes unlösbar mit unserem Dasein verknüpften. Wir befürchteten, dass alles, was uns teuer, durch den neuen Wert -den Unwert- in Gefahr kam. Kommunismus hätte unserem Leben seinen Sinn genommen. Meine Tante Barbara tat einen Schritt aus diesem Kreis hinaus, sie suchte nach einem Neubeginn.

      »Rücksichtslos und beinahe ohne Gefühl für das, was wir empfanden«, sagte Verena, »meine Mutter war im selben Jahr wie ein Stück Vieh in einem Güterzug auf dem Wege nach Sibirien umgekommen, oder sie ist ermordet worden. Mein Vater saß im Konzentrationslager in Oranienburg; in diesem Augenblick tat es Barbara, wie ich glaube, mit voller Berechnung, um sich von uns endgültig zu scheiden. Unsere Schwester Gusti verlor ihre Stellung als Lehrerin; sie musste neuen Frauen und Männern weichen. Es waren elende Jahre, auch du bist mir damals nicht gerade eine Hilfe gewesen. Wie uns mitgespielt wurde, ist dir bekannt.«

      Das konnte ich nicht leugnen, ich bin ihr wirklich keine Hilfe gewesen. Mich interessierte die Familie damals nicht, soweit es ihre Weltanschauung betraf. Mein Misstrauen machte vor meinen Verwandten nicht halt. Gerade nicht - die Schuldigen hatten kein Gesicht. Unsere Ratlosigkeit konnte sich gegen keinen anderen wenden als gegen die Frauen und ihre Männer, die uns gezeugt, von deren Tischen wir aßen, deren Feigheit wir unsere Lage anscheinend zu verdanken hatten. Bequemer ist eine junge Generation noch nie zu einem Grund für ihren Konflikt gelangt.

      »Komm schon zum Ende«, sagte ich, »wie es ausging, weiß ich zwar, aber du willst es wieder einmal loswerden, ich seh es dir an.«

      Es klang tief überzeugt, als Verena sagte: »Es ging natürlich schief.«

      Ich hätte hinzufügen können: Aber es mussten zehn Jahre vergehen, ehe Barbara sich aufgab.

      »Sie ging nach Amerika.«

      Mit diesem Stichwort verbindet mein Gehirn die Vision eines unheimlichen und imponierenden Spektakels. Unser Respekt vor dieser anderen Welt war groß. Dort borgten wir, was unser Weltbild von technischem Fortschritt künftig ausmachen sollte, und es geschah 1946, dass uns der erste, in einer Mathematikstunde umständlich enthüllte und gekaute Gum, die erste in Gemeinschaft gerauchte Camel ein Gefühl von Unabhängigkeit und Überlegenheit vermittelten.

      »Ich erkläre es mir so«, schloss Verena, »sie hatte hier nichts mehr verloren. Sie war mit all ihren kommunistischen Wachträumen gescheitert, gab ihr schönes Atelier am Kurfürstendamm auf, verkaufte, was sie besaß, und ging, ohne uns um Erlaubnis zu bitten und ohne Abschied zu nehmen, in dieses andere Land.«

      Ich schob den Fensterflügel auf, und sofort schlug der Lärm der einst so stillen Straße wie eine Brandung über uns zusammen, eine Wolke von Dunst und Abgasen stieg zu uns herauf.

      Vor dieser rauen, brutalen Wirklichkeit, vor der Welt der Tatsachen, erloschen die Bilder.

      »Ich komme mir vor wie ausgeliefert«, sagte Verena müde, »ich hätte die große Wohnung auch längst aufgegeben, wüsste ich, dass es woanders besser ist. Man hat die Städte unbewohnbar gemacht, im Namen des Fortschritts. So werde ich hier wohl sterben.«

      Allen ging es gut; heute erscheinen mir diese Tage wie ein ferner leichter Kindertraum.

      Ich war ein sauberes Kind.

      »Solange ich 'auf dich achtgab«, sagte Verena, »man kleidete die Kinder damals gern in helle Stoffe. Man schnitt ihnen die Haare kurz und zog ihnen glänzend schwarze oder braune Schuhe an, aus Boxcalf, von Leiser oder von Salamander.«

      Wer Kinderschuhe in einem Salamandergeschäft kaufte, bekam eine Zeitung dazu mit einer Bildergeschichte in Fortsetzungen, eine Art Comicstrip. Ein aufrecht gehender Salamander, von der Fabrik beschuht, erlebte die überraschendsten Abenteuer und bestand sie dank der Güte seiner Stiefel.

      Ich war ein nachdenkliches Kind.

      Verena widersprach nicht. »Einen Träumer will ich dich trotzdem nicht nennen. Du besaßest die hartnäckige Fähigkeit, dich in Vorstellungen hineinzusteigern. Ich meine, über das normale kindliche Vermögen hinaus, sich als Trapper oder Indianer, als Räuber oder Gendarm zu fühlen. Mich

      ängstigte manchmal die Intensität, mit der du deine Wünsche durchzusetzen suchtest. Ich erinnere mich an einen Fall. Du verlangtest heftig eine Feuerwehr. Aus irgendwelchem Grunde wurde diese nicht sofort gekauft, oder wir wollten sie dir überhaupt nicht kaufen. Du wurdest geradezu hysterisch. Als du die Feuerwehr dann hattest, warfst du sie in die Ecke, um sie nie wieder anzusehen. Deswegen sprach dein Vater eine Woche lang nicht mit dir.«

      Obwohl diese Episode sehr weit in meine Kinderzeit zurückreichte, entsann ich mich bei Verenas Darstellung daran; nicht an die Feuerwehr, sondern an die Aufregung, in die mich die Nebenumstände versetzt hatten. Auch jetzt überkam mich ein Gefühl der Leere, des Verdrusses und Betrogenseins, wie damals, als ich die Feuerwehr in der Hand hielt und nichts mehr damit anzufangen wusste,

      »Es ist das Problem deines Lebens geblieben, in Besitz zu nehmen und wieder aufzugeben, zu wünschen, zu verzichten und neu zu wünschen«, sagtet Verena. »Ich würde dich introvertiert nennen.«

      »Schokolade, Schlagsahne und Bonbons soll ich nicht gemocht haben, aber Äpfel und Brot?«

      »Das Brot bekamen wir damals vom Lande, es war steinhart, und so dicht gebacken, dass, ein Messer darin knirschte. Es könnte monatelang liegen, ohne zu schimmeln oder ungenießbar zu werden. Nur härter wurde es. Der alte Stadel sorgte für solche Kost, Dich verwöhnte er auf seine Weise.«

      Mattias Stadel, mein Großvater - ich lernte ihn in vielen Verkleidungen kennen, die häufigste war die eines Häuserverwalters und Maklers. In seinem Arbeitszimmer versammelten, sich täglich alle möglichen Leute. Mieter und Spekulanten, Handwerker und Hausbesitzer. Auf den muskulösen Unterarmen des ehemaligen Schmiedes, Husaren; Seemanns und Skagerrak-Helden ringelten sich in Blau und Rot tätowierte Schlangen um Anker und Herzen. In Wendisch-Rietz besaß er ein kleines bäuerliches Anwesen, das er selbst bewirtschaftete. Aus den Erträgen versorgte er uns und andere Familienmitglieder. Wir bezogen Obst und Fleisch, Brot und Hülsenfrüchte von Mattias. Ich ritt auf einem Gaul, der Lotte hieß, eine mächtige, kluge Rappstute, die geduldig stehen blieb, wenn ich über eine Leiter oder einen Tritt auf ihren Rücken kletterte. Aus dem Fell der Stute stieg feuchter, tiergesättigter Geruch, den ich gierig einsog. Auf der Kruppe sitzend, kniend, hockend, kam ich mir geschützt vor wie auf einem Turm, während Mattias die Stute durch Zurufe lenkte ...

      Das Pferd ist für mich die liebenswürdigste und leibhaftigste Form, des Tieres geworden; weshalb ertragen Tiere die Quälereien durch Kinder mit solchem Gleichmut?

      »Sonst bist du ein ziemlich verfressenes Kind gewesen«, bemerkte Verena, »du hattest in manchen Zeiten einen richtigen Bauch.«

      »War ich tapfer?«

      Sie schüttelte den Kopf »Nicht im Sinne von aggressiv. Gewehrt hast du dich allerdings manchmal so nachdrücklich, dass wir dir Vorwürfe machen mussten. Einmal schlugst du einem Kameraden mit einem Steinguttopf ein Loch in den Kopf, und das Ohr musste genäht werden.«

      Und das ist eine der Geschichten meiner. Kindheit, an die ich mich nicht erinnere, die nur durch wiederholtes Erzählen am Leben erhalten wurde. Heute weiß ich, dass meine Familie

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