Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
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Sumpfkalla, Schilf, Riedgras wuchsen in einem Teich, eine Weide ließ die Vorhangschnüre ihrer Zweige vor einer Bank herunterhängen, und immer noch eine andere Art schob sich durch das Blumengefilz. Rittersporn und Goldlack, Margeriten und Fingerhut standen bei den gutmütigen runden Gesichtern der Sonnenblumen. Ebereschen und eine kleine Blutbuche drängten sich in diesem Garten, der bei Sommerhitze alles erschlaffen ließ. Im Herbst glich er einem bunten Park, um im Winter in ein Bild aus schwarzem Astwerk zu erstarren.
Über der Veranda - ein einziger Raum, der die untere Etage ausfüllte - lagen zwei Schlafzimmer. Nachts stiegen berauschende Düfte zu mir empor, ein Geruch von Verwesung und Zeugung. Das Streichkonzert der Zikaden drang herauf, der Ruf eines Kiwitts, mit lang gezogener klagender Endsilbe, Froschquaken und andere, undeutbare Nachtstimmen ließen mich lange wach liegen, bis ich endlich wie berauscht einschlief.
Tagsüber lebten wir allein in dem kleinen Haus, ich und meine Tante Barbara, für die ich eine heftige, unklare Leidenschaft empfand. Sie hatte die strahlendblauen Augen der Familie Arzt, deren hohe Backenknochen und einen vollen, weichen Mund. Lachte sie, so schien ihr Gesicht aufzuleuchten. Ihr Haar ließ sie lang wachsen, steckte es irgendwie oder ließ es ungekämmt. Groß war ihre Gestalt nicht. Im Sommer trug sie bei der Arbeit - sie zeichnete Buchillustrationen, eine Kunst, die ich bewunderte - einen hellen Kittel mit aufgekrempelten Ärmeln. Ihre nackten Beine sahen unter dem Kittelsaum hervor. Beugte sie sich bei der Arbeit herunter, so fiel manchmal eine Haarsträhne über die blau geäderten Schläfen; ich wartete jedes Mal auf die rasche unbewusste Handbewegung, mit der Barbara das Haar wieder zurückstrich.
In der Veranda stand auch ein Klavier. Obwohl meine Tante es gelernt hatte, spielte sie selten, aber sie hörte mit Andacht Musik, und ich übte meine Sonaten ihretwegen, um etwas mit ihr gemeinsam zu haben. Eine ihrer Eigenschaften, die sonst kein Familienmitglied besaß und die ich besonders schätzte, war eine Schweigsamkeit; die nicht trennte, sondern mir Zeit ließ, etwas auszudenken, zu spielen und zu träumen.
Sie besaß ein Pony und einen langzottigen Hund, der unter der Sommerhitze litt, dafür aber wie ein Otter schwamm und tauchte ...
»Das alles muss nach sechsunddreißig gewesen sein«, sagte Verena, »mein Vater war schon Schuldirektor in Hammelspring. Er zog weg, und so blieb meiner Schwester das Haus. Gott mag wissen, wie sie wirklich gelebt hat. - Ganz recht, du bist gern dort gewesen, du hingst mit einer wahren Affenliebe an Barbara.«
Wie sich Mutter ausdrückte, darin lag etwas Verächtliches. Heute, runde dreißig Jahre später, standen mir die Bilder von damals vor Augen: das Haus, der Garten, meine Tante.
»Sie war eine Künstlerin, gewiss. Wir sind uns immer darüber im Klaren gewesen, dass ihr bürgerliche Norm nicht genügte. Wir ließen ihr ihren Willen.«
Immer wenn die Rede auf Barbara kam, fiel Verena in einen nörgelnden, moralisierenden Ton, redete in dunklen Andeutungen oder in banalen Formen.
»Sie hatte viele Männer, wechselte oft? Ist das gemeint, Mama?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Wenn es so gewesen sein sollte, dann nahm sie jedenfalls Rücksicht auf ihren und auf den Ruf ihrer Familie, aber sie hatte; was ihre Männer betraf, keine glückliche Hand. Sie war zu problematisch.«
Sie redete um die Sache herum. Sicher wusste sie mehr über ihre Schwester als ich, der sie nach den Kinderjahren nur noch selten zu sehen bekommen hatte. Ihr Urteil über ihre Schwester oder bloß die Andeutung eines Urteils schien mir ungerecht. Dass Barbara anders gelebt hatte als die Familie, dass sie sich etwas abseits hielt, berechtigte keinen zu einer abfälligen Bemerkung, zumal alle vor ihrer eigenen Tür zu kehren gehabt hätten:
»Heuchelei hat es wahrhaftig genug bei uns gegeben. Barbara ist tot, du kannst also ruhig darüber sprechen. Ich werde ihr sicherlich gerechter als du.«
»Du? Gerecht?« Verena verzog ihr Gesicht. »Du warst ein frühreifes Kind. Was du bei meiner Schwester gesehen hast, konntest du kaum verstehen. Barbara schlug aus der Art. Zuerst ging sie ihren eigenen Weg, hielt sich von uns fern. Dann zog sie einen scharfen Trennungsstrich zwischen sich und uns.«
»Man kauft sich kein Pony, wenn man seine Miete nicht bezahlen kann?«
Sie nickte zustimmend. »Mein Vater erhielt sie schließlich am Leben, was in seiner Stellung nicht ganz leicht gewesen ist.«
Ich dachte, dass der Hammelspringer Schuldirektor seine Tochter ebenso erhalten hatte wie der alte Mattias Stadel uns. Mit dem Namen Stadel tauchte in meinem Kopf die Gestalt eines meiner Großväter auf; ich kannte die Männer meiner Familie eigentlich nur in verschiedenen Uniformen. Mattias zuerst als Schwedter Husaren mit dem Totenkopf an der Mütze. In das Bild, einen gerahmten Druck, klebt man sein Porträt ein.
»So lange ist das schon her«, warf Verena, befriedigt über unsere gemeinsame Entdeckung ein.
Später, während des Ersten Weltkrieges, ließ sich der alte Mattias in feldgrauer, tristgrauer Uniform fotografieren, ein spitzes, bartgerahmtes Gesicht, ein sitzender Soldat, die Hände im Schoß wie zum Gebet übereinandergelegt, und eine Frau, hinter dem Stuhl stehend, das Haar in der Mitte gescheitelt, leicht naturkraus, zu den Ohren hin gekämmt. Der Kopf - Marta Dorothea Stadel, geborene Bittner, die Kohlkoppen - schaut aus einem weißen Spitzenkragen heraus, und die Gestalt ist unter einem fußlangen Rock und, einer faltenreichen: Bluse verborgen.
Jetzt betrachtete ich meine Mutter. Ihre kleinen, zartknochigen Hände hatten den Ausdruck von Kraft und Ruhe; ich stellte mir ihr Leben plötzlich in Zeitraffertechnik vor, eine Kette von Bewegungen, auf wenige Momente zusammengedrängt. Kindheit - in einem plustrigen Kleid und einem Blumenhütchen, mit Lackschuhen und Strümpfen; die junge Frau in dem weißen Ballkleid; und jetzt die alte Frau, deren Gesicht sich durch alle diese Phasen nach rückwärts durcharbeitet, bis hin zu dem weichen runden, Babygesicht der Tochter des Schuldirektors Friedrich Wilhelm Arzt, 1904 imstande, der Unschuld geboren.
»In eben jenem Haus in der Wilhelmshagener«, sagte Verena, »Barbara wurde zwei Jahre später geboren und Gusti Nullacht. Die Ersten werden die Letzten sein; sie heiratete von uns Dreien zuerst.«
Ich lebte in dem Glauben, Barbara sei unverheiratet geblieben, es passte wenig zu ihr, eine Ehe zu gründen.
»Sie hat sechsundvierzig geheiratet, einen Maler. Diese Ehe war schrecklich, und sie nahm auch kein gutes Ende.«
Aber Barbara nahm ein gutes Ende. Ich empfand eine große Befriedigung oder Rechtfertigung ihres Lebens in der Tatsache, dass meine Tante nicht in einer Ehe verkommen war.
. »Ich frage mich, weshalb du nicht weißt, dass sie verheiratet war, du, der so in diese Frau vernarrt gewesen ist.«
Meine Erklärung hätte wieder zu dem Thema zurückgeführt, das wir für diesen Teenachmittag hinter uns gebracht glaubten. Im Jahre 1946 war ich zu stark mit mir selbst beschäftigt gewesen. Wie in den Kinderjahren vor der Hochbahn in der Schönhauser Allee stand ich damals vor dem siebenfach gesiegelten Tor zum Leben.
»Ich habe deine Tante während ihrer Ehe oft besucht. Barbara war, wie soll ich es nennen, sorgenvoller geworden. Und dann: Sie tat etwas Unmögliches. Es war die endgültige, absolute Trennung von uns.«
Verena blickte mich streng an. Sie wechselte von der einen zur anderen Rolle, und es klang wie ein unumstößliches Urteil, als sie Barbaras Vergehen mit einem Wort