Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

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Dame in Weiß - Helmut H. Schulz

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Versuche, sie zu unterbrechen, wehrte sie ab: »Nein, nein, wir stimmen ja völlig überein, man ist zu weit, gegangen.« Sie nahm mir rasch den Balzac aus der Hand und leitete in stilleres Wasser über: »Ich lese noch einmal diese großen Romane, du weißt?«

      »Wie oft hast du Vater Goriot schon gelesen?«

      »Oft. Ich fürchte, es ist jetzt das letzte Mal ...«

      In jenem Jahr ihrer Kraft-durch-Freude-Reise in die Fjorde Norwegens konnte ich noch nicht lesen, und mein Großvater richtete sein Bemühen auch nicht darauf, mir diese Kunst beizubringen. Sein Haus in Hammelspring hat sich mir fest eingeprägt: Es ist ein zweistöckiges Haus, aber anders als Bauernhäuser, im Gutsherrenstil der Gründerzeit errichtet. In der Mitte der Fensterfront liegt eine Auffahrt; zwei verputzte Säulen tragen einen vorspringenden Giebel. An den Ecken stehen oben zwei Amphoren. Im Untergeschoss ähnelt es den bäuerlichen Häusern. Arbeitszimmer, Wohnzimmer mit Flügel und Harmonium nehmen das Untergeschoss ein. In der Diele hängt ein großes Ölgemälde meines Großvaters in der Uniform eines Oberleutnants der Garde. Ein kleineres zeigt meine Großmutter. Dort steht auch ein Gewehrschrank mit dem Degen meines Großvaters.

      Auf mich hat das Haus immer einen bedeutenden Eindruck gemacht, es schien mir einem Schloss ähnlicher als einem Wohnhaus, mit vielen Zimmern, Treppen, Böden und Kellern, vollgestopft mit Möbeln und unbrauchbarem Gerümpel. Bajonette, alte Grabplatten, ausgestopfte Tiere und seltsame Geräte verstaubten in diesem Haus. Es war nicht durch einen Zaun seitlich abgegrenzt, sondern durch eine Quadermasse aus Feldsteinen. In den Ritzen wucherten Efeu, Dornengestrüpp und Farne, schossen Birken hoch, und alles zusammen bedeckte die Mauer grün und undurchdringlich. Durch eine hölzerne Tür kam man in den Garten, genauer gesagt, in den Friedhofsgarten mit einer kleinen alten Kapelle, immer unverschlossen, und dem Beinhaus. Die ganze Anlage stammte aus der Zeit, wo der Lehrer das Amt des Kantors mit versah, und möglicherweise hatte das schlossähnliche Haus einmal als Pfarrei gedient.

      »Dass du dich daran erinnern kannst«, sagte Verena, »aber du hast recht. Es war ein merkwürdiges Haus.«

      Schulleiter oder Schulrektor, wie er offiziell hieß, war mein Großvater, ein Mann von Größe und Selbstbewusstsein, der stets korrekt gekleidet ging, in dunkelgrauen Anzügen, Zugstiefeln und dünnen, farblosen Schlipsen.

      »Wo bist du eigentlich lieber gewesen, bei meinem Vater oder bei dem alten Stadel?«

      »Bei Mattias Stadel.« Stadels Haus befand sich im Ausbau des Dorfes Wendisch-Rietz, unweit der alten Spree. Kam mein Großvater in sein gemütliches schilfgedecktes Haus, so schlüpfte er aus seinen Schuhen, zurück in die Pantinen. Ihn umgab ein Hauch Unternehmungslust und Spätgründertum. Er verkörperte mir damals den Begriff Autorität, wenn er mit der Sense Schwad um Schwad legte, anhielt, das Blatt schärfte, wenn er in seinem Kahn saß und die Posen der Angeln beobachtete. Und dann umgab ihn natürlich auch die Aura des weit gereisten Seemanns, nicht vergleichbar mit den Leistungen eines Dorfschullehrers.

      »Wenn du nur einen Tag bei dem alten Stadel warst, hattest du beinahe alles verlernt«, sagte Verena. »Du benahmst dich am Tisch wie ein Affe, als gäbe es weder Messer noch Gabel.«

      Das freilich gab es bei Studienrats nicht. Wäre nicht das Gefühl des Auserwähltseins gewesen, in diesem wunderbaren schlossartigen Bau zu leben, und wären nicht die freundlichen Großeltern Arzt gewesen, hätte ich wahrhaftig die Gesellschaft des alten Stadel für dauernd vorgezogen. Noch etwas empfand ich als lästig: die pädagogischen Übungen, die Friedrich Arzt mit mir vornahm, seine Hinweise auf einen racheschnaubenden und alles durchschauenden Gott. Religion ist ein eigenes Kapitel, soweit sie meine Familie betrifft.

      »Ich nehme an«, sagte Verena, »du warst ein wenig überfüttert mit Vorbildern. Du bist das erste Kind der neuen Generation in der Familie gewesen. Allzu viele Verwandte liebten dich. Wenn ich mich richtig entsinne, so war einer deiner Wesenszüge schon damals, sich zu entziehen, was du heute ja geradezu perfekt beherrschst.«

      Meine Erklärung lautete anders: Der alte Stadel bot mir einfach freiere Möglichkeiten. Er ließ manches durch, war vor allem auf Beobachtung aus, wie ich mich in diesem oder jenem Fall verhalten würde, ohne sofort eine Belehrung einzuleiten. Vielleicht vertraute er mehr dem natürlichen Lerntrieb. Jedenfalls war der Aufenthalt bei Stadel anregender als der bei Studienrats.

      Außer dem Kahn besaß Mattias ein kleines Segelboot; er besaß überhaupt eine Menge höchst seltsamer Dinge zum Gebrauch und nicht nur zum Ansehen.

      »Er war ein Bauer geblieben«, sagte Verena, »du bist ja alt genug, um dir heute ein Bild von ihm zu machen. Jedenfalls war es Zeit, dass wir von unserer Seereise zurückkehrten und du wieder in Zucht genommen wurdest.«

      Ich hätte sie gern veranlasst, über meinen Vater zu sprechen, zu dem mein Verhältnis merkwürdig gebrochen gewesen ist, eine Mischung aus Verachtung und Mitleid. In späteren Jahren entstand etwas wie Freundschaft. Ihm gegenüber sehe ich mich immer in der Rolle des Aktiveren, Unternehmenderen. Die Fotos, die ich von ihm besitze, zeigen zwar auch einen Soldaten, im Unterschied zu meinen beiden Großvätern aber zugleich einen körperlich schlecht entwickelten jungen Mann in schlotterndem Waffenrock und riesiger Tellermütze. Er war fünfzehn, als er zum ersten Mal eine Uniform trug; 1916, zum Andenken an meinen Bruder, steht auf der Rückseite in der gestochen scharfen Sütterlinschrift des Kaufmanns. Er stand in der Lehre bei der Firma Peek und Cloppenburg, seine Arbeitszeit dauerte von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, zwei Stunden Pause in der Mitte, dafür erhielt er monatlich fünfzehn Mark, im letzten Lehrjahr fünfzig Mark. Aber im letzten Lehrjahr trug er kaiserliche Uniform. Unterwiesen wurde er in den kaufmännischen Wissenschaften, Briefwechsel, Buchführung, Wechsellehre und Warenkunde: Mut und Wollen jedem Streben, ernstem Wollen Heil und Preis ...

      Sein spitz-ovales Gesicht ist der Kamera direkt zugewendet, die Hände liegen gekreuzt im Schoß. Aber diese mitleiderweckende Gestalt ist nicht die ganze Wahrheit über ihn; es gab auch Jahre der Zuversicht und des Einverständnisses. Er war etwas, für das mir der Begriff Mitläufer falsch erscheint, weil er den Mangel an Motiven nicht erklärt.

      »Du bist ungerecht wie immer, wenn du über deinen Vater urteilst, was dir nicht zusteht«, sagte Verena, auf die Uhr blickend. Ihre Teestunde lief ab. Sie hatte für die Stunde vor dem Abendessen um achtzehn Uhr wer weiß was vorgesehen. Sie lebte nach der Uhr.

      »Ich bin nicht ungerecht, ich suche nach Erklärungen für euer Leben.«

      »Du und deine Generation, ihr leidet an dem Trauma, dass wir versagt haben. Ihr geht davon aus, euer heutiges Wissen hätte euch vor Nationalsozialismus, Krieg und Nachkrieg bewahrt.« Und listig fügte sie hinzu: »Die Geschichte wäre also bloß abgelaufen, damit ihr euren Komplex bekommen konntet?« »So ist es natürlich nicht.«

      Aber wie war es? Stimmte es, was sie behauptete, wir litten unter dem Trauma, unseren Eltern ständig ein beispielloses Versagen bescheinigen zu müssen? Fiel gerade der Zwischengeneration die Entscheidung besonders schwer? Trug noch der Vater meines Vaters den Husarenrock mit naivem Selbstbewusstsein, trug Verenas Vater, der Studienrat und Reserveoberleutnant bei der Garde - vielleicht der Einheit, die einen Liebknecht-Mörder großzog -, trugen diese Männer noch ihre Uniformen wie Auszeichnungen, so stand sie meinem Vater, dem Nachgeborenen, wie der Kittel eines traurigen Harlekins.

      Es waren, noch andere Erinnerungen da, die an einen Uniformierten in Polen: Radomsk, Kielce, Krakow. An die als selbstverständlich gehandhabte Siegergeste, an die Fresspakete, vielleicht nicht ganz so zahlreich, vielleicht mit einem Rest an schlechtem Gewissen geschickt, aber doch beteiligt. Nie ganz dafür, auch mit verletztem Rechtsbewusstsein, mit stiller Qual, einem Stück über die Zeiten geretteter Redlichkeit, Glaube an Ordnung, Recht, aber doch immer mit dabei.

      »Leider«,

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